Thema, Medizin im Nationalsozialismus

Eduard Pernkopf – Ein Nazi und sein Atlas

11. April 2021
Warum der „Pernkopf-Atlas“ problematisch ist und was ihn mit der Innsbrucker Anatomie verbindet.
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von Tom v. Zimmermann

Den meisten Leserinnen und Lesern wird er ein Begriff sein – der „Pernkopf – Anatomieatlas“. Er galt lange als „Klassiker“ und noch heute wird er als herausragender Atlas betrachtet, auch wenn er seit 1989 nicht mehr erschienen ist. Den seegrünen Band vom Verlag „Urban & Schwarzenberg“ hielten einige vielleicht während des Sezierkurses in den Händen oder haben eine digitale PDF-Kopie mit den farbenfrohen Abbildungen bei der Vorbereitung auf ein Assessment oder TBL zu Rate gezogen. Weltweit noch immer von zahllosen Chirurg:innen verwendet, wird die sehr detail- und realitätsgetreue Darstellung gelobt. Ethisch jedoch, ist diese Verwendung sehr umstritten.

Pernkopf bei seiner Antrittsvorlesung als Dekan der medizinischen Fakultät zum Semesterstart 1938.  © Österreichische Nationalbibliothek Wien, Bildarchiv Zeitgeschichte Signatur: ZG S 283-36

Wer war Eduard Pernkopf?

Eduard Pernkopf, geboren 1888 in Rappottenstein (Niederösterreich), war ein österreichischer Anatom und überzeugter Nationalsozialist. Er studierte in Wien Humanmedizin und wurde 1912 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert.

Bei seinem Lehrer Ferdinand Hochstetter war er im Studium Demonstrator und später Assistent am II. Anatomischen Institut in Wien, das zu seiner Wirkstätte wurde. Pernkopf habilitierte sich 1921 bei Hochstetter, erhielt 1927 eine außerordentliche Professur und folgte schließlich seinem Mentor 1933 als Ordinarius für Anatomie.

Schon während seines Studiums fiel er durch seine deutschnationale Haltung auf, er war Mitglied in der schlagenden Burschenschaft „Alemania“. 1933 wurde er Mitglied der NSDAP und ein Jahr darauf auch in der damals verbotenen SA. Bis 1938 stieg er dort zum Obersturmbannführer auf. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wurde er persönlich mit anderen Nationalsozialisten mit der – Achtung Euphemismus – „Säuberung“ der Universität betraut. So ersetzte er auch den entlassenen und vorrübergehend inhaftierten Dekan Egon Ranzi. Insgesamt wurden so 153 von 197 Mitarbeiter:innen der medizinischen Fakultät entlassen, entweder weil sie jüdisch waren, jüdische Ehepartner:innen hatten oder politische Oppositionelle darstellten (Hildebrandt 2006). Bei seiner Antrittsrede als Dekan der medizinischen Fakultät sprach Pernkopf sich in SA-Montur für die „Ausschaltung der Erbminderwertigen, durch Sterilisation und andere Mittel“ aus. 1943 wurde er schließlich Rektor der gesamten Universität Wien und blieb es bis zum Kriegsende 1945, als er von Alliierten in Salzburg gefangen genommen wurde.

Für seinen Atlas konnte er hervorragende Zeichner und Illustratoren wie Erich Lepier, Franz Batke und Karl Endtresser gewinnen (alles Nazis). Zusammen schufen sie einen damals didaktisch und grafisch neuartigen Atlas. Bei einigen Zeichnungen fällt auf, dass die Künstler bei ihrer Unterschrift SSRunen oder Hakenkreuze verwendeten, was zumindest bei Lepier als Hinweis auf seine NS-Gesinnung gewertet werden kann. Lepier zeichnete später auch für den Sobotta-Atlas, Abbildungen die den Leser:innen sehr bekannt sein dürften.

Unterschrift mit Swastika.  © Pernkopf. Topographische Anatomie des Menschen I. Tafel 40. Josephinum, Medizinische Universität Wien. MUW-ZE-003250-0005-0186. 

Doch in welchem Ausmaß profitierte Pernkopf vom NS-Regime?

Obwohl gleich nach dem Krieg Stimmen laut wurden, dass die Institute noch viele Leichen und Präparate von Opfern des NS-Regimes behielten, hat es leider noch einige Zeit bis zur systematischen Aufarbeitung der Rolle der Anatomen und Inspizierung der Bestände gedauert.

Erst 1998 widmete sich eine vom Senat der Universität Wien zum Thema eingesetzte Kommission dieser Fragestellung. Und das auch nur, da es vermehrt Nachfragen und Untersuchungen aus den USA und Israel gab, was die Rolle von Pernkopf und der von ihm für den Atlas verwendeten Präparate angeht. Die Vermutung stand im Raum, dass es sich bei den dargestellten Leichen um hingerichtete Jüdinnen und Juden, sowie politische Gefangene handelt.

Zwar waren die Leichenbücher aus den entsprechenden Jahren vermutlich durch einen Bombentreffer zerstört worden, doch konnten die Zahlen teilweise rekonstruiert werden. Mindestens 1377 Leichen von Hingerichteten erhielt das Institut in den Jahren 1938-1945. Diese waren zu einem großen Teil für „Hochverrat“ verurteilt worden, wobei das sowohl politischen Widerstand als auch Bagatellverbrechen wie Schwarzmarkthandeln beinhaltete. Es waren auch die sterblichen Überreste von mindestens 7 Jüdinnen und Juden an das Institut übergeben worden.

Überliefert sind Beziehungen Pernkopfs zur Kindertötungsanstalt „Am Spiegelgrund“ mit dessen „Euthanasieprogramm“ eine Kooperation bestand. 

Was geschah mit diesen Opfern der NS-Justiz? Die Leichen fanden Verwendung in den studentischen Sezierkursen, als Demonstrationspräparate, zur Herstellung von Langzeitpräparaten und als Vorlagen für die „Topographische Anatomie des Menschen“. Bei Gehirnpräparaten, angeferetigt von Leichen der Kindertötungen vom „Spiegelgrund“, ist überliefert, dass sie auch nach dem Krieg bedenkenlos  für wissenschaftliche Zwecke verwendet wurden.

Der Verdacht, dass es sich bei den im Atlas dargestellten Präparaten zum Teil um die sterblichen Überreste von NS-Opfern handelt, erhärtete sich also. Zwar arbeitete Pernkopf von 1929 bis 1955 an dem Atlas, jedoch konnte durch Datierung aufgeklärt werden, dass bis zu etwa der Hälfte der Abbildungen in der Zeit zwischen 1938-1945 entstanden, von denen einige sehr wahrscheinlich von den Leichen Hingerichteter stammen.

Heute ist klar, dass die ersten Sezierkurse für Studierende nach dem Krieg in Wien aber ebenso in Innsbruck und Graz auch an Leichen von NS-Opfern stattfanden.

Was ist mit den Langzeitpräparaten passiert?

Pernkopf selbst fand 1947 aus alliierter Gefangenschaft wieder zum anatomischen Institut und setzte seine Arbeit am Atlas fort. Er hatte es geschafft, mit dem Attribut „wenig belastet“ einer Entnazifizierung zu entgehen. Einzig seine akademischen Titel blieben ihm offiziell verwehrt, er erhielt jedoch seine vollen Pensionsbezüge. Als Ordinarius folgte ihm sein früherer Schüler und Weggefährte Prof. v. Hayek. Im Institut hatte er nun einen jungen Assistenten: Den späteren Innsbrucker Anatomen Werner Platzer. Platzer studierte von 1947 – 1952 in Wien. Er fertigte auch Präparate an, die später vermutlich im Atlas auftauchten, dessen Herausgeberschaft er später von Pernkopf übernahm. 1969 wurde er Professor in Innsbruck und überführte wahrscheinlich sehr viele Präparate mit an seine neue Wirkstätte.

Nach dem Krieg. Pernkopf mit seinen Illustratoren, hinter ihm: Der junge Werner Platzer.

Im letzten Jahrzehnt gingen viele medizinische Fakultäten in Deutschland und Österreich der Frage nach den Präparaten nach. So auch hier in Innsbruck, wo unter anderem der Wiener Historiker Prof. Herwig Czech und an seiner Seite Prof. Erich Brenner vom Innsbrucker Institut für Anatomie die NS-Geschichte ausrollten (Artikel). Eine aktuelle Analyse mit dem Ziel verbleibende NS-Präparate auszusortieren, kam zu dem Schluss, dass zum Beispiel 200 histologische Schnitte von NS-Opfern stammten. Brisant ist dabei eben zu wissen, dass Prof. Werner Platzer die vielen Fragen abwehrte, die schon im Zusammenhang mit der Pernkopf-Untersuchung in den 90er Jahren auftauchten und irreführende Informationen gab, die einer Aufklärung im Weg standen (Czech, Brenner 2019). Chancen, diese Verflechtung viel früher im Rahmen der Pernkopf-Untersuchung aufzuklären, wurden verpasst, wie Czech und Brenner in ihrem ersten Paper über die NS-Zeit der Innsbrucker Anatomie schreiben.

Ein Umstand, der gern unerwähnt bleibt. Dabei gibt es keinen Zweifel an den Verdiensten Platzers, der von Kolleg:innen und ehemaligen Studierenden hochgeschätzt wird, der zweifelsohne viel Charisma besessen haben muss und dem die Innsbrucker MedUni (bzw. die damalige medizinische Fakultät) laut namhaften Weggefährten einiges verdankt. Eine Verschleppung der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit an der Innsbrucker Anatomie kann man ihm anlasten. Es heißt, dass ihn die Vorwürfe den Pernkopf-Atlas betreffend sehr getroffen hätten und er nicht gerne darüber sprach.

Wie umgehen mit der Vergangenheit des Atlas?

Tatsächlich gibt es seit 25 Jahren eine wissenschaftlich-ethische Diskussion darüber, ob und wie man den Pernkopf-Atlas noch verwenden sollte. Prof. Sabine Hildebrandt, die in Harvard Anatomie lehrt, hat viel zu dem Thema publiziert. Sie erwähnt in einem Artikel einige Argumente (Hildebrandt 2006).

Die Gegner einer Verwendung betonen, dass niemand von der Ausbeutung menschlichen Lebens profitieren sollte, besonders nicht von Opfern des Nationalsozialismus. Dabei bestehe die Gefahr, dass der Gebrauch der wissenschaftlichen Produkte im Nachhinein die Gräueltaten rechtfertige, die zu ihrer Entstehung beitrugen. Außerdem ließe sich der Atlas einfach durch moderne anatomische Lehrbücher ersetzen und sollte daher aus den Bibliotheken entfernt werden. Diese Sicht lässt sich gut nachvollziehen, da die NS-Opfer ihrer Verwendung natürlich nie zustimmten und ihre Würde so weiter verletzt wird.

Dem entgegen steht, dass man die Abbildungen ja gerade benutzt, um Leben zu retten. Es wird der einzigartige Wert des Werkes betont und dass etwas Gutes aus dem Schlechten entstehen könne, wenn man mit dem Atlas Mediziner:innen ausbildet, die dadurch besser operierten. In einem BBC-Artikel kommt der Rabbi und Holocaust-Überlebende Joseph Polak zu Wort, der als Professor für Gesundheitsrecht einen ethischen Aufsatz zum Thema publiziert hat. Danach gefragt, was er als Moralphilosoph über die Situation denke, meint er, es sei für ihn keine Frage, dass man den Atlas verwenden kann, wenn man damit jemandem sein Leben zurückgeben könne. Im Aufsatz kommt er zu dem Schluss, dass das Lehrbuch zu Rate gezogen werden kann, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten – unter der Voraussetzung, dass die Geschichte dahinter bekannt gemacht wird.

Dr. Hildebrandt kommt zu dem Schluss, dass das Problem-Buch in der historischen und ethischen Schulung zukünftiger Ärztinnen und Ärzte eingesetzt werden sollte. 

Nach meiner Meinung gehört es dringend auf den Lehrplan, insbesondere da es die Verbindung zur Innsbrucker Anatomie gibt und uns „diese Nazi-Verbrecher zeigen, wie Ärzte nicht handeln dürfen“ (Spiro 1998). Die lebhafte Diskussion um die Geschichte des Pernkopf-Atlas und seine ethischen Implikationen könnte man zum Beispiel sehr gut in einem Ethik-Seminar im Rahmen des Sezierkurses abbilden.

Am 17. April 1955 starb Pernkopf während der Arbeit am 4. Band seines Atlas. Zu seinem Gedenken schwärmte Nachfolger v. Hayek von seiner Liebe zur Musik und pries ihn als großartigen Lehrer, Forschergeist und Menschen. Die politische Vergangenheit erwähnte er mit keinem Wort.

Titelbild: 

Die Faszien des Halses. Abb. 325, S. 274. 3. Band, Pernkopf Anatomie. Atlas der topographischen und angewandten Anatomie des Menschen. Werner Platzer. Urban&Schwarzenberg, 1989. 

Quellen:

1. Gustav Spann: Untersuchung zur anatomischen Wissenschaft in Wien 1938-1945
Senatsprojekt der Universität Wien. Eine Zusammenfassung

2. Czech H, Brenner E. Nazi victims on the dissection table – The Anatomical Institute in Innsbruck. Annals of Anatomy, 2019.

3. BBC.com Eduard Pernkopf: The Nazi book of anatomy still used by surgeons

4. Eintrag zu Eduard Pernkopf. Geschichte der Universität Wien. unvie.ac

5. Haus der Geschichte Österreich: Eintrag zur Pernkopfaffäre. HDGOE

6. Howard A. Israel, DDS; William E. Seidelman, MD. Nazi Origins of an Anatomy Text: The Pernkopf Atlas. 1996. JAMA

7. Akademische Gedenkfeier: Werner Platzer 1929-2017. Gesellschaft der Ärzte in Wien.  Billrothaus.at

8. Sabine Hildebrandt. How the Pernkopf Controversy Facilitated a Historical and Ethical Analysis of the Anatomical Sciences in Austria and Germany: A Recommendation for the Continued Use of the Pernkopf Atlas. New York: Clinical Anatomy. 2006.

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Redakteur