Thema, Medizin im Nationalsozialismus

Der SS-Arzt Josef Mengele taucht unter – eine Flucht, die auch über Innsbruck führt

22. Juni 2021
Josef Mengele, geboren am 16. März 1911 in Günzburg, studierte Medizin in München und erhielt 1936 seine Approbation als Arzt. Doch die Taten, die er danach im Namen der Medizin ausübte, hatten mit dem ärztlichen Berufsethos nichts zu tun. Es waren Verbrechen gegen die Menschheit. Er wurde dafür nie zur Rechenschaft gezogen. Denn nach Ende des Zweiten Weltkrieges floh er nach Südamerika, wo es ihm gelang, für den Rest seines Lebens unterzutauchen.
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von Emma Wenzel

Als Lagerarzt in Auschwitz war Mengele unter anderem verantwortlich für die Selektion der neuankommenden Häftlinge. Er entschied, wer in den Tod geschickt und wer als Arbeitskraft noch lebendig ins Lager aufgenommen werden sollte. Außerdem ist er bekannt für seine radikalen Maßnahmen zur Bekämpfung von im Lager ausgebrochenen Typhuspandemien, zu deren Ausrottung er ohne Ausnahmen ganze Barackenblöcke in den Tod durch die Gaskammern schickte. Schätzungen gehen davon aus, dass Mengele eine hohe fünfstellige Zahl an Menschen direkt in den Tod schickte. Für seine eigenen Forschungszwecke hielt er bei der Selektion insbesondere Ausschau nach Zwillingen und Kleinwüchsigen, an denen er in Folge brutale Menschenversuchte verübte, wie zum Beispiel Experimente mit Bluttransfusionen, chirurgische Eingriffen ohne Narkose oder Untersuchungen mittels Injektionen verschiedener Krankheitserreger.

Seine Flucht führte über die sogenannte Rattenlinie von Deutschland über Österreich und Italien und letzten Endes nach Argentinien, Buenos Aires. Diese Fluchtroute nutzten viele NS-Kriegsverbrecher und sie war durch und durch organisiert – auch unter der Mitbeteiligung von Institutionen, von denen man es nicht erwarten würde, wie zum Beispiel dem

Internationalen Roten Kreuz (IKRK) oder dem Vatikan. Die Stadt Innsbruck spielte auf dieser Fluchtroute eine besondere Rolle. Sie war nach der Grenzüberschreitung Mengeles von Deutschland nach Österreich der erste wichtige Ort, der ihm die Flucht reibungslos ermöglichen sollte.

Lagerarzt Josef Mengele 1944 an der Solahütte bei Auschwitz. © US Holocaust Memorial Museum. 

Die ersten Jahre des Untertauchens

Nach der Befreiung des Lagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945, gab sich Mengele zunächst als unschuldiger Wehrmachtsoffizier aus, bevor er an die Ausweispapiere eines anderen Arztes, Fritz Ulmann, gelangte, dessen Namen er später in Fritz Hollmann umänderte. Diese Identität sollte er bis zum Frühjahr 1949 behalten. Dass er zunächst unauffällig blieb, lag außerdem mitunter daran, dass er die als SS-Mitglied kennzeichnende Blutgruppentätowierung am Arm bei seinem Eintritt in die SS abgelehnt hatte. Er schaffte es, in der Nähe von Rosenheim bei einer Bauernfamilie unterzutauchen, bei der er mehrere Jahre versteckt blieb. Dort half er bei der Kartoffelernte und anderweitigen Arbeiten mit. Doch mit den Jahren merkte er, dass die Alliierten immer mehr NS-Kriegsverbrecher verurteilten und dass unter diesen auch sein Name immer häufiger auftauchte. Aus diesem Grund entschloss er sich dazu, Deutschland zu verlassen.

Die Flucht

Mengele verließ zunächst den Bauernhof in Rosenheim und versteckte sich in der Nähe seiner Heimatstadt Günzburg, von wo aus er Kontakt zu seiner Familie halten konnte, die seine gesamte Flucht mitorganisierte und -finanzierte.

Sein erstes Ziel hinter der deutschen Grenze war Innsbruck, das er per Zugweg erreichte. Innsbruck etablierte sich als „erster informeller Durchgangs- und Sammelpunkt“(1) auf der Fluchtroute vieler NS-Kriegsverbrecher nach Übersee. Viele wählten dann den Weg, der von Innsbruck über den Brenner nach Sterzing und von dort aus weiter zur Hafenstadt Genua führte, mit deren Erreichen dem Absprung in ein neues Leben kaum mehr etwas entgegenstand. Ein Weg, den auch Josef Mengele wählte.

Der Fluchtweg. 

Es war der 15. April 1949, Karfreitag, an dem sich Mengele auf den Weg von Innsbruck nach Steinach am Brenner machte und von hier weiter nach Vinaders/Gries am Brenner gelangte, wo er zunächst im Gasthof des Tiroler Gastwirtes Jakob Strickner unterkam, der zusammen mit dem Südtiroler Adolf Steiner aus Meran als sein Schlepper über die Grenze nach Italien fungieren sollte. Am Ostersonntag, dem 17. April 1949, erfolgte dann die österreichisch-italienische Grenzüberquerung. Die Grenzroute bezeichnete man als „grüne Grenze“: Pfade durch Wälder, über Wiesen und über die Alpen. Nach der Grenzüberquerung erreichte Mengele auf italienischer Seite den kleinen Grenzort Brennerbad, wo er eine Nacht im Gasthof „Kerschbaumer“ unterkam, der bis heute dort existiert.

Einen Tag später ging es schon weiter nach Sterzing, wo er sich vier Wochen im Gasthaus „Goldenes Kreuz“ aufhielt. (2)

Italien war also ohne jegliche Komplikationen erreicht worden und nun war der Zeitpunkt für Mengele gekommen, sich eine ganz neue Identität zuzulegen. Hier wurde er vom deutschen NS-Kriegsverbrecher zum unschuldigen Südtiroler Helmut Gregor aus Tramin. Als Südtiroler galt man als „Volksdeutscher“, ein Begriff, der als “amtliche Bezeichnung für Angehörige der deutschen Sprache und des deutschen Kulturkreises, die nicht deutsche, österreichische oder Schweizer Staatsbürger waren“ (3), benutzt wurde.

Die Anschaffung des neuen Personalausweises stellte kaum eine bürokratische Hürde dar. Der Südtiroler Historiker Christoph von Hartungen geht davon aus, „dass ein NS-gesinnter Beamter des Meldeamtes von Tramin die Identitätskarte für Mengele und Co. ausstellte und unterschrieb“.(4)

Der Name Helmut Gregor war anscheinend frei erfunden, da er nie in einem Taufregister in Tramin gefunden werden konnte. Auf dem Ausweis wurde der Geburtstag auf den 6. August 1911 mit dem Geburtsort Tramin datiert und als Beruf Techniker und Mechaniker angegeben.(5) Die neue Identität ließ also nicht mehr auf die Vergangenheit Mengeles rückschließen. Das Einzige, was Mengele die ganze Zeit als Beweisstück seiner Taten mit sich führte, war sein Aktenkoffer, in dem er seine Aufzeichnungen aus Auschwitz aufbewahrte – sein allergrößtes Heiligtum, das ihm auf seiner Flucht nie abhandengekommen ist.

Neben den NS-Kriegsverbrechern flüchteten auch viele NS-Opfer nach dem Krieg ins Ausland. Da die Situation extrem unübersichtlich war, kreuzten sich die Fluchtrouten der Opfer und Täter häufig, ohne dass diese gegenseitig voneinander wussten. Und so tauchte Helmut Gregor à la Josef Mengele einfach in der Menge der Flüchtlinge unter.

Der NS-Kriegsverbrecherjäger Simon Wiesenthal schrieb über dieses Phänomen:

Ich kenne ein kleines Gasthaus in der Nähe von Meran, wo illegale Nazitransporte und illegale Judentransporte zuweilen die Nacht unter dem gleichen Dach verbrachten, ohne voneinander zu wissen. Die Juden waren im ersten Stock versteckt und angewiesen, sich nicht zu rühren; und die Nazis im Erdgeschoss hatte man dringend gewarnt, sich nicht außerhalb des Hauses sehen zu lassen.“ (6)

Neben seiner neuen Identitätskarte benötigte Mengele für die Ausreise nach Südamerika einen Reisepass. Bei der Beschaffung von diesem spielte das Internationale Rote Kreuz (IKRK) eine besondere Rolle. Neben dem IKRK war eigentlich die International Refugee Organization (IRO) verantwortlich für die Ausstellung von Reisedokumenten für Flüchtlinge. Diese Organisation kümmerte sich jedoch vorwiegend um sogenannte Displaced Persons, zu denen zum Beispiel Überlebende des Holocaust oder ehemalige Zwangsarbeiter zählten. Als Volksdeutscher zählte man nicht zu dieser Personengruppe und so auch nicht Helmut Gregor à la Josef Mengele. An dieser Stelle griff das IKRK ein, das sich seit 1944 in Italien für die Ausstellung von Reisedokumenten dieser Menschen annahm. Es gab mehrere Stellen, an denen diese Dokumente ausgestellt wurden, unter anderem Rom, Genua, Wien, Salzburg und Innsbruck.

Am 16. Mai 1949 schaffte Mengele es, sich in Genua mithilfe seines Südtiroler Ausweises einen Rot-Kreuz-Pass zu beschaffen, der die Eintrittskarte für seine Überfahrt nach Argentinien darstellte.(7)

Blick auf die Maria-Theresien-Straße in den 1950er Jahren. © DieNormativitätPrivatarchiv

Sein Leben nach der Flucht 

Am 22. Juni 1949 erreichte er schließlich das argentinische Festland. Den südamerikanischen Kontinent hat er bis zu seinem Tod bis auf einige kurze Aufenthalte in der Schweiz nicht mehr verlassen. Auch wenn zum Beispiel der Mossad oder der NS-Kriegsverbrecherjäger Simon Wiesenthal seiner Fährte immer wieder mal auflauerten, gelang es Mengele jedes Mal erneut unterzutauchen – in Paraguay, in Chile, in Uruguay und in Brasilien, wo er letztendlich im Alter von 68 Jahren am 7. Februar 1979 starb. 

Gefunden wurde nur noch seine Leiche: „Seine Überreste als Lehrinstrumente für angehende Mediziner an der Universität in Sao Paulo – so endet Josef Mengeles Flucht […] nach dem Ende eines Krieges, der den kosmopolitischen und kultivierten Kontinent Europa vernichtet hat.“ (8)

 

 

Buchempfehlungen:
  • Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht, Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee kamen, herausgegeben von Rolf Steininger, Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Band 26, StudienVerlag
  • Olivier Guez, Das Verschwinden des Josef Mengele, 1. Auflage 2020, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2018

 

Quellen und Literatur:

https://www.geo.de/wissen/22881-rtkl-beruechtigter-kz-arzt-mengele-wie-dem-todesengel-von-auschwitz-die-flucht-gelang 

https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Flüchtlingsorganisation 

https://www.dw.com/de/papst-vatikan-nazis/a-52450811 

https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Mengele 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/fluchthilfe-fuer-ns-verbrecher-die-rattenlinie-nach.976.de.html?dram:article_id=488129  

[1] Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht, Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee kamen, herausgegeben von Rolf Steininger, Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Band 26, StudienVerlag 2008, S.33 

[2] ebd., S.39f. 

[3] ebd., S.19 

[4] ebd., S.66 

[5] ebd., S.62 

[6] Simon Wiesenthal, Doch die Mörder leben, München-Zürich 1967, S.109 

[7] Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht, Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee kamen, herausgegeben von Rolf Steininger, Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Band 26, StudienVerlag 2008, S. 111 

[8] Olivier Guez, Das Verschwinden des Josef Mengele, 1. Auflage 2020, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2018, S. 214 

[9] Thomas Giefer, Die Rattenlinie, Fluchtwege der Nazis, Eine Dokumentation, Frankfurt am Main, 1991 Verlag Anton Hain GmbH 

[10] Gerald L. und John Ware, Mengele: Die Jagd auf den Todesengel, Berlin, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1993 

 

Emma

Emma

Redakteurin