Thema, Essay

Stachelschwein Dilemma in der heutigen Zeit

12. April 2021
Kann man das Verhalten der Stachelschweine wirklich auf unsere Gesellschaft beziehen oder ist diese These nur eine veraltete philosophische Anschauung? In diesem Artikel befasse ich mich mit der These von Arthur Schopenhauer des Stachelschwein Dilemmas im Zusammenhang zu unserer heutigen Zeit.
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von Arjang Taban-Shomal

Stachelschweine und Philosophie? Hört sich zunächst erstmal sehr merkwürdig an. Um jedoch zu verstehen, wo der Zusammenhang besteht, müssen wir uns ihr Verhalten anschauen. Stachelschweine sind Tiere, die wir nicht im europäischen Raum vorfinden, sondern eher in asiatischen oder afrikanischen Orten der Welt. Ähnlich wie der Igel besitzt das Stachelschwein spitze Stacheln, um sich gegen andere Tiere zu verteidigen. Schopenhauer bezog sich in seiner These auf die Stachelschweine, da er ihr Verhalten studiert hatte. In seinem Werk „Parerga und Paralipomena“ in der Parabel: „Die Stachelschweine“ geschrieben 1851, geht es um das Zusammenleben der Stachelschweine in Extremsituationen, welche er in direkten Zusammenhang auf die Menschen und die Probleme der Gesellschaft bezieht. Zum Verständnis hier ein Auszug aus seinem Werk: 

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näherbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.

So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehn kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: Keep your distance! (Wahren Sie den Abstand!) -Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.

Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.“ [1]

Im seinem ersten Paragraphen schildert Schopenhauer das Verhalten der Stachelschweine. Im Zweiten überträgt er dieses Verhalten auf die Gesellschaft, die seiner Meinung nach ein ähnliches Verhalten aufweist: Das Dilemma, dass trotz guter Absichten Zwischenmenschlichkeit nicht ohne gegenseitiges Zufügen von Schmerz verlaufen kann. Zur Folge haben wir schwache zwischenmenschliche Bindungen. Mit den Worten „keep your distance“ rät er, einen gewissen Abstand zu halten, um nicht in totaler sozialer Isolation zu sein, aber dennoch anderen nicht nahe zu kommen, um nicht verletzt zu werden.

Eine Lösung für dieses Dilemma bietet er nicht. Nur dass diejenigen, die sich ganz von der Gesellschaft lösen und damit dann genug „eigene Wärme“ besitzen, nicht von anderen verletzt werden können. Eine eher sehr pessimistische Einstellung, wofür jedoch Schopenhauer auch bekannt war. Doch ist es überhaupt für den Menschen möglich, sich der Gesellschaft komplett zu lösen, oder ferner überhaupt richtig? Studien zeigen, dass Menschen, die sich sozial isoliert und zurückgezogen haben, sich trotzdem die Nähe anderer wünschen. Spricht diese These des Stachelschwein Dilemmas nach 170 Jahren noch unsere Gesellschaft an?

Eine schwierige Frage, da durch das Internet und aktuell unsere Corona Situation weltweit dies nicht leicht zu beantworten ist. Das Internet und Social Media sind schon Teile unserer Gesellschaft geworden. Wir benutzen es, um Kontakte mit anderen Menschen zu pflegen und Teil an unserem Leben haben zu lassen. Geradezu bietet das Internet die Chance, sich mit vielen Menschen gleichzeitig zu vernetzen, über die ganze Welt verteilt. Zugleich könnte man jedoch auch die These der Stachelschweine darin sehen. Denn viele Menschen vernetzen sich immer mehr durch die heutigen Social Media Plattformen. Dabei wird immer mehr Wert auf das eigene Image gelegt. Eine falsche Aussage oder Meinung zu einem Thema kann schon genügen, um nicht nur verletzt, sondern ganz und gar von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Ein weiterer Nachteil des Internets ist, dass viele Posts über Jahre bleiben. Man sieht immer wieder, wie Jahre alte Posts von Menschen ausgegraben werden, die folglich verurteilt werden oder gar ihren Job verlieren. Mittlerweile recherchieren sogar Firmen danach, um solche Angriffe zu verhindern. Könnte heutzutage ein gewisser Abstand zu Social Media eventuell sogar ratsam sein? Vielleicht sollte man den Vorteil des Vernetzens ausnutzen, zugleich aber vorsichtig sein, um sich nicht selbst zu schaden.

Zeichnung eines Stachelschweins.  © Foto auf pixabay.com, lizenzfrei. 

Des Weiteren befinden wir uns zurzeit in einer Pandemie, in der „Social distancing“ großgeschrieben wird. Das wäre doch eigentlich das perfekte Szenario für Schopenhauers These. Die Menschen sind alle größtenteils über das Internet, dem sogenannten Home Office, noch mit ihrem Job und der Gesellschaft verbunden. Gleichzeitig haben sie jedoch einen gewissen Abstand zueinander. Nach Schopenhauer müssten doch die Menschen sich jetzt besser fühlen. Zumindest die, die genügend Eigenwärme besitzen. Jedoch sieht man nach über einem Jahr, wie die Menschen sich wieder nach der physischen Begegnung mit anderen Menschen sehnen. Trotz verschärfter Regelungen, wie am Anfang der Pandemie, sieht man Menschenmassen aller Altersgruppen überall verteilt. Verbirgt sich hier vielleicht mehr als nur ein Regelverstoß? Eventuell zeigt es vielmehr, dass es in der Natur der Menschen liegt, in einer physischen Gesellschaft zu leben. Dadurch wird deutlich, dass virtuelle Nähe nicht dasselbe ist wie physische Nähe.

Kann man schlussendlich dadurch sagen, dass Schopenhauers These veraltet ist oder gar nicht zutrifft? Das würde ich so nicht unterschreiben. Trotz des Wandels unserer Gesellschaft heutzutage und ihrer Komplexität gibt es dennoch viele Eigenschaften, die im Grundlegenden gleichbleiben. Jedoch finde ich auch, dass es falsch wäre, sich von der Gesellschaft abzuwenden, da es doch in unserer Natur liegt, in einer Gesellschaft zu leben. Aber ganz widersprechen möchte ich Schopenhauer nicht: Vielleicht ist es nicht schlecht, sich mit ein wenig Vorsicht anderen und der Gesellschaft zu nähern, um sich selbst aber auch um andere vor Schmerzen zu bewahren. Es gilt die perfekte Mitte zu finden. Auch wenn diese These anmutet, finde ich, dass sie auch einen positiven Aspekt zeigt. Die Stachelschweine nähern sich an, um Wärme der anderen zu empfangen. Gleichzeitig teilen sie aber auch ihre eigene Wärme mit den anderen und erhalten sich so am Leben. Auch wenn man sich vielleicht vorsichtig nähern sollte, um die anderen nicht mit den eigenen Fehlern oder gegenteiligen Charakterzügen zu verletzen oder von ihnen verletzt zu werden, kann die Nähe anderer dennoch Freude und Vollkommenheit bringen.

Arjang

Arjang

Redakteur