Thema, Psychologie

Phillipe Pinel und das Huhn im Zeugenstand

30. September 2024
Von Misserfolg und Meilensteinen – Anekdoten der Wissenschaft II
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von Nicolas Bauder

Der Umgang mit psychischen Erkrankungen ist nicht leicht. Doch selbst in Zeiten, in denen das Verständnis für psychische Gesundheit allmählich wuchs und erste bedeutende Erkenntnisse hervorgebracht wurden, kann es aus heutiger Sichtweise dennoch als unglaublich gelten, welche absolut absurden Behandlungsmethoden in psychiatrischen Kliniken an der Tagesordnung standen. Aus Furcht vor Stigmata ließen die Patienten ihre gefährlichen Zwangsbehandlungen über sich ergehen, während die Öffentlichkeit wohlüberlegt die Augen verschloss. Bis 1811: Der erste Arzthaftungsprozess in Deutschland war bahnbrechend, öffnete allen die Augen und hinterließ trotzdem einen deftigen, bitteren Beigeschmack…

Dir wird nicht entgangen sein, dass die Behandlung psychischer Störungen nicht erst mit Sigmund Freund, dessen Eisberg und der alles auf den Trieb zurückzuführenden Psychoanalyse aufkam. Nein, schon seit Jahrhunderten hatte man versucht, psychischen Störungen mit gewissen (unlauteren) Methoden den Garaus zu machen:

Zusammenfassend versuchten entweder Schamanen, Priester oder Philosophen entweder mithilfe von Ritualen, Dämonenaustreibungen oder der Vorstellung davon, dass eine Depression nur dann entstehen kann, wenn die Körperflüssigkeiten ihre Balance verlieren, Krankheiten zu heilen. Diese Humoralpathologie von Hippokrates und Galen beeinflusste maßgeblich das Behandlungsgeschehen mit psychisch Kranken und wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich überholt!

Und wie reagierte die westliche Medizin gegenüber den psychisch Kranken in ihrer Gesellschaft? Lange Zeit bestand die glimpflichste Maßnahme in ihrer Ausstoßung. Es entwickelte sich dahingehend, dass man mit Ketzern, Hexen und Sträflingen im Kerker zusammengepfercht oder gefoltert wurde. Die Mediziner behielten einen so lange da, bis sie glaubten, auch das letzte Fünkchen Teufelei ausgetrieben zu haben. Heißt: Für immer. Lange Zeit galt demnach der religiöse Eiferer als bester Kurator einer Geisteskrankheit. Außerdem kam es durchaus vor, dass die „Behandlung“ der Patienten in ihrer zügigen Ermordung gipfelte (um Kost, Logis und Wahnsinn zu sparen).    

Der Narrenturm in Wien: Für eine gewisse Zeit der wohl beliebteste Menschenzoo im Habsburgerreich  © (1)

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts erstarkte allerdings die moderne psychiatrische Medizin und reduzierte die Einflüsse von Humoralpathologie und Religion in den Kliniken auf ein Minimum. Man schlug neue Wege der Behandlung ein, und wer hätte das gedacht? Dieser moderne, neue Ansatz, psychisch Kranke endlich auch einmal „heilen“ zu wollen, stieß auf fruchtbaren Boden!

So war es zum Beispiel Ende des 18. Jahrhunderts der Arzt Phillipe Pinel (1745-1826), der an der Pariser Psychiatrie Salpêtrière völlig neue Behandlungswege beschritt: Im Zuge seiner Therapiemaßnahmen legte er seinen Patienten die Ketten ab! Er gestattete ihnen, zeitweise die Anlage zu verlassen, um im sichtgeschützten Innenhof die Sonne auf der Haut zu spüren! Mit seinem Verdient der „Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten“ stieß Pinel eine Diskussion an, die die Zwangsbehandlung für immer in Frage stellen würde.

Mit Erfolg: John Conolly (1794-1866), britischer Psychiater und Mitbegründer der British Medical Association (BMA), vertrat ab 1839 das Non restraint-Konzept in psychiatrischen Anstalten und damit den Verzicht auf jeglichen mechanischen Zwang. Mitglieder der BMA vertraten diese Maxime nun als oberstes Behandlungsprinzip und machten sich international argumentativ dafür stark.

Dennoch muss die Frage aufgeworfen werden, wie sehr Pinel eigentlich als Pionier dieser Bewegung angesehen werden darf. Lupenrein war er sicherlich nicht! Aufgrund seines Bruchs mit traditionellen Behandlungsmethoden mochten sich die Patienten zwar weniger als Ausgeschlossene der Öffentlichkeit fühlen – doch eine neuerliche Integration der psychisch Kranken in die Gesellschaft strebte Pinel nicht an. Außerdem: Zwar fanden Ende des 18. Jahrhunders zwar Trepanation mit anschließender Salzbestreuung oder humoralpathologischer Entsaftung ein Ende, nicht aber andere Methoden: Das waren zum Beispiel extremtemperaturige Duschen und Drehmaschinen mit 120 Umdrehungen pro Minute. Wie sehr das immer noch der Gesundheit des Patienten schadete, dafür interessierte sich kaum jemand. Und als es jemand tat, stand Pinel schon längst nicht mehr im Rampenlicht der Täterriege.

(1) Philippe Pinel wird von vielen als der Vater der modernen Psychiatrie angesehen. 1795 malte ihn Robert Fleury, wie Pinel die Ketten seiner Patientinnen entfernt. © (1)

(2) Ernst Horn dagegen hat keiner Patientin die Ketten abgenommen. Aber er wurde trotzdem von Anja Brems gemalt. © (2) 

1811 war das nämlich ein anderer:

Der deutsche Mediziner und Co-Leiter der Berliner Charité Dr. Ernst Horn.

Schon die Jahre zuvor war Horn wegen seiner meist unmenschlichen psychiatrischen Behandlungsmethoden in Kritik geraten, doch stets versandete der Tadel. 1811 war der Bogen allerdings überspannt: Horn ließ seine einundzwanzigjährige Patientin im Zuge der Behandlung ihrer „schweren Gemütserkrankung“ zum Entspannen in einen Sack stopfen, band ihn oben zu und ließ sie schreiend auf dem Boden liegen. Diese „Therapie“ zur Abschottung vor äußeren Reizen hatte er schon häufig unhinterfragt an anderen durchgezogen. Eben bis 1811. Denn die Patientin verstarb.

Was folgte, war revolutionär: Warum? Weil niemals zuvor jemand auf die Idee gekommen wäre, das Dogma der Unfehlbarkeit eines Arztes konsequent zu hinterfragen!

Doch Horn wurde wegen seines „Sterbesacks“ angezeigt – kurz darauf fand der erste Arzthaftungsprozess in Deutschland statt. Zwar verteidigte sich Horn leidenschaftlich mit der Aussage, die Patientin wäre aufgrund ihrer Übererregung in dem Sack an einem Schlaganfall gestorben, jedoch hatte er seine Rechnung ohne die Pathologen gemacht: Diese stellten in der Autopsie fest, dass die Patientin schlicht und einfach erstickt war. Der monatelang andauernde Prozess gegen Horn warf mehrere internationale Debatten über allerlei zweifelhafte psychiatrische Behandlungsmethoden auf (Sterbesack, Verabreichung von Brechmitteln, Verbrennung einzelner Körperstellen).

Im April 1812 stand schließlich das Gerichtsurteil fest: Selbstverständlich (wie hätte es denn auch anders sein können?) wurde Horn von allen Anklagepunkten freigesprochen. Er hatte dem Gericht ausreichend weismachen können, dass der Leinensack luftdurchlässig war:

Er hatte ein Huhn hineingesteckt, und da das Tier selbst nach zwölf Stunden Aufenthalt darin noch immer frisch und putzmunter gewesen war – obwohl Vögel als deutlich anfälliger für Suffokation als Menschen galten – musste man Suffokation bei der Patientin ja ausschließen. Außerdem konnte ja eine Differenzialdiagnose auch gewesen sein, dass der Tod durch das „Entweichen ihres Lebensprinzips“ verursacht wurde, wie Horn ebenfalls philosophisch darlegte…

Zusammenfassend endete also die „Criminaluntersuchung gegen […] Dr. Ernst Horn wegen fahrlässiger Tödtung einer Geisteskranken durch Anwendung eines ungeeigneten Mittels (des Sacks) […]“ laut den Worten des gerichtlichen Kammerdieners von 1820 als „unglücklicher Erfolg eines Heilverfahrens“. Der Sterbesack blieb daraufhin als „vergleichsweise sanftes Instrument zur Therapie“ bestehen.

Nichtsdestotrotz muss der erste deutsche Arzthaftungsprozess als entscheidende Landmarke betrachtet werden: Er hatte hohe internationale Wellen geschlagen und die Scheuklappen mit Augenbinde von den Gesichtern der Bevölkerung gewaschen. Auch veränderte er nachhaltig die Einstellung, mit dem das Innenleben psychiatrischer Kliniken betrachtet wurde:

Zum ersten Mal fragte man sich flächendeckend, was zur Hölle denn da drinnen jetzt echt mal vor sich ging!


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Nicolas Bauder

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