Mein Leben als Retortenbaby
Es ist kalt. Zu kalt. In etwa -190°C. Fünf Monate verbringe ich in der Eiswüste aus Stickstoff einer Kühlkammer des Labors im Brunecker Krankenhaus. Zuvor war ich in einem Glas (lat. vitro) mittels In-vitro-Fertilisation gezeugt worden. Nicht gerade das, was man sich unter einer „normalen“ Zeugung vorstellt. Doch wer will schon normal sein.
Wer glaubt, ich hätte es von Anfang an einfach gehabt und der männliche Anteil meines Chromosomensatzes (der Samen) sei direkt in den weiblichen (die Eizelle) hineingespritzt worden, liegt falsch. Bei der klassischen In-vitro-Fertilisation wird nämlich die nach dem Eisprung entnommene Eizelle der Frau mit den zuvor aufbereiteten Spermien des Mannes im Reagenzglas zusammengebracht. Dadurch findet eine Selektion der schnellen, gesunden und mobilen Spermien statt. Nach zwei bis vier Tagen des Wachstums wird die befruchtete Eizelle entweder in den Uterus der Frau eingepflanzt, oder sie wird, wie in meinem Fall, eingefroren, bis sie gebraucht wird.
Erst im April 2001, an einem Karfreitag (ob das wohl ein böses Omen war?), werde ich herausgeholt und in die Wärme der Gebärmutter meiner Mutter gesetzt. Im Fall meiner Eltern muss es heißen „Aller guter Dinge sind 10“. Denn ich bin der zehnte Versuch der künstlichen Befruchtung und die erste, die durchhält. Für mein zwei bis vier Tage altes Ich beginnt nun der Kampf ums Überleben. Glücklicherweise bin ich ein Mädchen und habe dadurch leicht höhere Überlebenschancen als etwaige männliche Mitbewohner in der Gebärmutter. Ein weiteres potentielles Geschwisterkind wird mit mir in die Gebärmutter gesetzt, doch ich allein überlebe. Es ist warm hier. Ich entwickle mich weiter und weiter, es entstehen Kopf, Hände, Füße, alles, was es braucht. Plötzlich merke ich, dass ich zu wenig Nahrung bekomme. Diese Lieferdienste heutzutage sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Schon acht Monate (in der 36. Schwangerschaftswoche) nach meinem Umzug vom Labor in den Bauch werde ich herausgehoben (zumindest muss ich mich nicht anstrengen). „Ein lebendes, unreifes, sogleich kräftig schreiendes Mädchen mit Wachstumsretardierung“, so werde ich im OP-Bericht beschrieben – daran hat sich bis heute nicht viel geändert.
Von da an geht es mit mir mehr oder weniger so weiter wie mit jedem traditionell gezeugten Kind. Nach einigen Tagen im Brutkasten und einigen weiteren Wochen im Krankenhaus werde ich entlassen, da ich trotz gegenteiliger Befürchtungen ein relativ robustes Kerlchen bin (zumindest für Frühchen-Verhältnisse) und so süß noch dazu! (Sorry, ich weiß, Eigenlob stinkt).
Ich wachse auf wie jedes andere Kind, und nach fünf Jahren bekomme ich ein Geschwisterchen, welches sogar ohne künstliche Befruchtung entstehen konnte (Shoutout an dich, cool, dass du auch überlebt hast). Noch glaube ich, dass der Storch die Kinder bringt, oder dass (und ich zitiere hier meine Gedanken mit 5, frei nach Erinnerung) „Die Mami ein Ei im Bauch hat, aus dem meine Schwester schlüpfen wird“. Ja, ich war manchmal etwas dumm. Erst mit zehn Jahren, als ich zumindest ein gewisses Maß an Verständnis für die menschliche Fortpflanzung besitze, erklärt mir meine Mutter im Flur unserer Wohnung, dass ich nicht natürlich gezeugt wurde. Mein Kindergehirn zieht sofort den Schluss, dass dies heißt, dass mein Vater nicht mein Vater ist, was meine Mutter glücklicherweise schnell aufklärt. Danach bleibt das Thema für einige Jahre eher unwichtig für mich. Doch je mehr ich im Biologieunterricht lerne, desto mehr interessiert mich das Thema. Und desto mehr wundere ich mich, warum außerhalb meiner Familie fast nie darüber gesprochen wird.
Eines Tages nach dem Sportunterricht (im dritten Jahr meiner Oberschulkarriere) sprechen wir Mädchen in der Umkleide über Adoption. Es kommt die Frage auf, ob es nicht „zach“ wäre, in unserem Alter zu erfahren, dass man adoptiert worden ist. Ohne nachzudenken, sage ich, dass dies bei mir nicht möglich sei. Alle schauen mich fragend an und so erkläre ich meine besondere Entstehungsgeschichte. Nach meiner Erklärung sehe ich nichts als verblüffte Gesichter. Die Mädchen wissen weder, wie In-vitro-Fertilisation funktioniert, noch war ihnen bewusst, ein Retortenbaby (umgangssprachliche Bezeichnung eines künstlich befruchteten Kindes) zu kennen.
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Im Laufe der nächsten Jahre kommt das Thema immer wieder auf, meist in der Schule bei Diskussionen über Ethik oder im Biologieunterricht, doch ich bin und bleibe das einzige Retortenbaby. In meinen 19 Lebensjahren habe ich keinen einzigen Genossen kennengelernt. Dabei sitzt, statistisch gesehen, in jeder Südtiroler Schulklasse ein durch Reproduktionsmedizin gezeugtes Kind. Allerdings: Viele wissen nicht, dass sie ein Retortenbaby sind. Viele Eltern wollen nach einer erfolgreichen künstlichen Befruchtung nicht mehr darüber sprechen. Das ist für mich nur schwer nachvollziehbar, da meine Eltern immer sehr offen mit dem Thema umgegangen sind, und mich ermuntert haben, es ihnen gleich zu tun. Wir behandeln die Art meiner Zeugung mit Humor anstatt mit Schweigen. Wenn ich etwas Dummes sage oder mache, richtet sich mein Vater sehr oft mit den Worten „I hon dos gsog, des ingfriore wor koan guita Idee“ (Pustrarisch für “Ich hab’s dir gesagt, das mit dem Einfrieren war keine gute Idee”) an meine Mutter und auch ich führe mein ständiges Frieren häufig auf meine Zeit im Eiskasten zurück.
Wie immer, wenn es um wissenschaftliche Eingriffe in den natürlichen Kreislauf des Menschen geht, stößt man nicht nur auf positive Rückmeldungen, wenn das Thema „In-vitro-Fertilisation“ aufkommt. Seit einigen Jahren ist die Kryokonservierung, also das Einfrieren befruchteter Eizellen, in Italien verboten. Dieses Gesetz basiert auf dem Vorwurf, dass die „übrigen“ Eizellen weggeschmissen würden (werden sie nicht, sie werden aufbewahrt), und dass diese schon als Kinder angesehen werden müssten. Wegen dieses Gesetzes wurden, noch bevor es überhaupt in Kraft war und ohne die Zustimmung meiner Eltern, elf befruchtete Eizellen meiner Mutter entsorgt – und damit mindestens fünf weitere Versuche für ein Geschwisterchen zunichte gemacht. Ich musste mir schon anhören, dass Kryokonservierung und künstliche Befruchtung unmoralisch seien, da man dabei die „besten“ Eizellen aussucht. Das macht die Natur auch. Bei der In-vitro-Fertilisation passiert es eben in einem Glas. Hier wie dort gilt das Recht des Stärkeren. Genuntersuchungen wurden bei meinem Mini-Me keine gemacht.
Solch moralisierende Kommentare haben mich wütend gemacht, und doch haben sie mich nur noch mehr motiviert, über künstliche Befruchtung zu sprechen. Ich bin dankbar dafür, dass meine Eltern ein solch starkes Durchhaltevermögen hatten, denn sonst wäre ich heute nicht hier.
Wenn das Thema aufkommt, erwähne ich mein Dasein als Retortenbaby. Immer noch stoße ich Großteils auf fragende Gesichter und Unwissen. Das möchte ich ändern. Denn ich stehe dazu: Ich bin ein Retortenbaby. Und du?
Quelle:
Nora
Redakteurin