
Jim Jones und Jonestown & Jan van Leiden und das Täuferreich von Münster

Brennt die Sonne unnachgiebig wie ein übermütiger Grillmeister vom Himmel, ist es höchste Zeit für ein Eis. (Am besten essen Sie eins, während sie diesen Text lesen, dann behalten Sie einen kühlen Kopf.)
Wer keine Eismaschine zu Hause hat – oder einfach keine Lust, selbst eines zu machen, selbst wenn er eine hat – setzt sich entweder ins Café um die Ecke oder holt sich sein Gelato bei der Eisdiele auf der anderen Straßenseite. Mögen Sie’s lieber im Becher oder in der Waffel? Nun, die klassische italienische Eiscreme wird bis heute oft im Becher serviert, aber das Waffelhörnchen (cono) ist zu einem der bekanntesten und beliebtesten Arten geworden, Gelato zu genießen. Die Erfindung des Waffelhörnchens für Gelato stammt übrigens aus dem 20. Jahrhundert: Es revolutionierte das Genusserlebnis, da es dieses zusätzlich auf knusprige Weise abrundet!
Die Idee des „Eises im Becher“ soll es dagegen schon zu Zeiten der Perser (um 400 v.Chr.) gegeben haben. Diese nutzten dafür unterirdische Kühlräume (Yach-tschāl bzw. „Eisgrube“) zur Lagerung ihres Eises und profitierten dabei von der hitzebeständigen Lehm-, Mörtel- und Ziegelkonstruktion des Bauwerks, um diese Rarität im heißen Wüstenklima vor dem Verlaufen zu bewahren. Ganz anders hat sich hingegen das Wissen um diese Technik verlaufen: Über viele Umwege fand es schließlich seinen Weg nach Italien.
Insgesamt handelte es sich aber lange Zeit mehr um „Schnee in Metallschalen zum Mixen“ als um „Eis in Pappbechern zum So-Essen“. Das war also mehr für Granita als für Gelato gedacht. Die uns bekannte Form der klassischen Eiscreme in Bechern gab es dann breitflächig erst mit der Erfindung der Eismaschine um 1843.

Ein Yach-tschāl ist ein traditioneller persischer Kühlraum, der seit dem 5. Jahrhundert genutzt wurde. Es handelt sich um große, kuppelartige, unterirdische Bauwerke mit dicken Wänden und komplexen Belüftungssystemen, die Eis und Lebensmittel kühl hielten. Das Eis wurde im Winter aus Gebirgen herangeschafft und für den Sommer gelagert.
Doch egal ob Eis im Becher oder in der Waffel: Der typische italienische Brauch an warmen Tagen ist heutzutage nicht mehr wegzudenken. Ist beides doch so praktisch, wenn Sie Ihr Eis beim Flanieren durch die Straßen für eine längere Zeit genießen und dabei die Schönheit italienischer Kunst, Architektur und Geschichte auf Schritt und Tritt einatmen können! Und davon hat Italien – auch dank der Rinascita (bzw. Renaissance) mehr als genug. Heute bekannt als „Wiederentdeckung der Antike“, war diese Zeitperiode im Grunde genommen ein 120 Jahre andauernder Kunst- und Kulturwettbewerb auf den Bühnen von Florenz, Mailand, Rom und Venedig. Andrea Palladio, Sandro Botticelli, Michelangelo Buonarrotti, Leon Battista Alberti, Leonardo da Vinci, Niccolò Machiavelli, Raffaello Sanzio, Tiziano Vecellio und Giorgio Vasari (von dem auch der Begriff Rinascita stammt) waren nur einige der Wettkämpfer, die aus den italienischen Ruinenstädten der Antike leuchtende Inseln der Pracht schufen.
Die Renaissance fand ihre Triebkraft in den florierenden Handelswegen in den Orient über das Mittelmeer, sowie den kirchlichen Abgaben („Ablass“) des christlichen Europas nach Rom. Das kam nicht nur den sakralen Finanzen zugute, sondern sicherte auch das Geld für die Bezahlung der Künstler. Dementsprechend müssen Sie sich vorstellen, dass es richtig blöd war, als diese Geldflut irgendwann einbrach.
Schuld waren einerseits die Portugiesen, die 1498 den Seeweg nach Indien entdeckten: Die Kaufleute Nordwesteuropas bevorzugten fortan die Häfen von Amsterdam, Antwerpen und Lissabon für Import und Export – statt Genua und Venedig.
Andererseits trug auch Martin Luther maßgeblich dazu bei: Seine Reformation spaltete die Kirche. Die Unzufriedenheit über die Kirchenleitung führte zur lutheranischen Staatskirche und zu einem drastischen Einbruch der katholischen Ablasseinnahmen.
Durch den Zerfall der katholischen Einheit erhielten auch religiöse Gruppierungen, die von den traditionellen kirchlichen Lehren abwichen und dafür jahrzehntelang unnachgiebig verfolgt wurden, plötzlich wieder Auftrieb. Gleichzeitig entstand auch Raum für ganz neue religiöse Bewegungen.
(1) Niccolò Machiavelli / (2) Raffaello Sanzio / (3) Giorgio Vasari / (4) Petersdom in Rom (Ostseite): Der Dom wurde vor allem durch den Verkauf von Ablassbriefen sowie Spenden finanziert. Bedeutende Renaissance-Künstler wie Michelangelo, der die Kuppel entwarf, und Raffaello, der an den Entwurfsplänen beteiligt war, arbeiteten am Bau mit.
© (1) wikimedia / (2) wikimedia / (3) wikimedia / (4) wikimedia
Als gutes Beispiel dienen da die Wiedertäufer, die sich als radikaler Zweig der Reformation ihre Route von Zürich, Straßburg und Amsterdam nach Süd- und Mitteldeutschland bahnten. Natürlich war diese Bewegung vielfältig und selbstverständlich gab es auch gemäßigte Gruppen. Bekannt geworden sind jedoch wie so oft die radikalen Ansichten und Praktiken einiger weniger Wiedertäufer. Deren Berühmtheit beruht im Volksmund vor allem auf ihrem sogenannten Täuferreich von Münster.
Die Wiedertäufer praktizierten dort die Erwachsenentaufe, denn die Kindertaufe nach altem römischem Vorbild galt ihnen als unbiblisch. Sie wollten eine friedfertige, streng theokratische Gesellschaft nach dem Vorbild Christi errichten; und zwar nicht nur in religiösen, sondern auch in allen politischen und sozialen Aspekten. Privateigentum sollte verboten werden (Christiania lässt grüßen) und die männlichen Prediger waren große Fans von Polygamie.
Sie fragen sich, warum die Wiedertäufer 1534 ausgerechnet in Münster ihr – wie sie es nannten – „Tausendjähriges Reich“ (das kommt mir bekannt vor) gründeten? Münster, bekannt als Fahrradstadt und Szenerie des wohl heitersten aller ARD-Tatorte, war um 1530 ein raues Pflaster: Die profanen Handwerker lagen im Dauerclinch mit den privilegierten Werkstätten der katholischen Klöster. Tagelöhner, Azubis und andere geringverdienende Gewerbetreibende zankten sich mit den marktbeherrschenden Zünften. Der lutheranische Stadtrat wehrte sich gegen das herumschubsende Mobbing des katholischen Bischofs. Auf der Straße verkündeten die charismatischen Prediger Jan Mathys und Bernd Rothmann in schwärmerischem Freudentaumel die baldige Rückkehr von Jesu Reich an – und warben damit massenweise neue Anhänger (bzw. Täufer) an. Sie lehnten die Hierarchie der Kirche ab und betonten das „Priestertum aller Gläubigen“. Das alles geschah sehr zum Missfallen der katholischen und auch lutheranischen Obrigkeit.
Jan Mathys stammte aus den Niederlanden, sah sich als Prophet Gottes und war aufgrund seines Mystizismus aus seiner Heimat vertrieben worden. Er pries Münster als „Neues Jerusalem“ an und schließlich gelang es ihm auch, in Münster die Macht zu übernehmen. Der katholische Bischof floh und heuerte umgehend ein Söldnerheer an, dass sich vor den Toren der Stadt in Belagerungsstellung brachte, um die fehlgeleiteten Münsteraner mit Feuer und Stahl zurück zum wahren Glauben zu missionieren. Die Bewohner verbarrikadierten die Stadt. Viele Männer flohen – aus Angst vor den neuen Machthabern, vor Zwangstaufen und vor den Söldnern. Jan Mathys wusste allerdings, dass man ihm als Prophet Gottes nichts anhaben konnte und ritt mutig ins Lager der Söldner, um den Bischof zum Umdenken zu bewegen. Bewegt hat sich nur Jans Kopf, als er von dessen Schultern heruntergesäbelt wurde.
Dieses war der erste Jan, doch der zweite folgt sodann. Wie schon bei Max und Moritz gab es auch hier zwei Übeltäter: Ein gewisser Jan van Leiden übernahm nun die Führung der Täufer. Mit ihm begann der nächste, weitaus größenwahnsinnigere Streich. Auch dieser Jan war Niederländer, unglaublich charismatisch und beschwor den Untergang der alten Zivilisation. Scheinheilig berief er sich auf nur eine einzig gültige Legislative – und die stand auf den zwei Steintafeln, die Moses nach 40 Tagen und 40 Nächten auf dem Berg Sinai erhielt. Wie Sie wissen, wurden die Israeliten damals aufgrund seiner langen Abwesenheit ungeduldig und glaubten, Moses sei vielleicht gestorben – weshalb sie begannen, aus allen Goldreserven ein Kalb als neuen Gott anzufertigen.
Und wie einst der zornige Moses, der nach seiner Rückkehr dem Stamm Levi befahl, ein Massaker unter den Gotteslästerern zu veranstalten (3000 Tote), so folterte und ermordete Jan van Leiden ebenfalls seine Kritiker – links und rechts und unten… aber nicht oben, denn da stand ja nur er: Johann I., König von Zion.
(1) Jan van Leiden / (2) Jan van Leiden bei der Taufe eines Mädchens / (3) Jan Mathys / (4) Die Anbetung des Goldenen Kalbes
© (1) wikimedia / (2) Johann Karl Ulrich Bähr (via wikimedia) / (3) wikimedia / (4) Nicolas Poussin (via wikimedia)
Darüber hinaus war Jan van Leiden außerordentlich machiavellistisch. Machiavellismus bezeichnet eine politische Theorie, nach der zur Sicherung politischer Macht jedes Mittel – unabhängig von Recht und Sitte – erlaubt ist. Namensgeber ist Niccolò Machiavelli – ein weiterer Beleg dafür, wie sehr der Geist der Renaissance das Denken jener Zeit prägte.
Handelte Jan van Leiden machiavellistisch, bedeutete das: Er agierte eigennützig und manipulativ, ohne Rücksicht auf Moral oder Prinzipien. Ups – widersprach er da nicht direkt seinen zehn Geboten? Egal!
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben? Das passte schon, Jan van Leiden stellte sich selbst als von Gott auserwählten König dar und ließ sich nahezu göttlich verehren. Du sollst nicht töten? Wenn sein Machterhalt in Gefahr war, konnte er da nur herzlich drüber lachen. Du sollst nicht stehlen? Jan van Leiden verbrannte alle Besitzurkunden und enteignete die Münsteraner notfalls mit Gewalt. Nun gehörte jedem theoretisch alles – ein Aspekt, den kommunistische Forscher als Beleg für die sozialrevolutionäre Dynamik der Täuferbewegung ansahen.
Du sollst nicht ehebrechen? Er führte die Polygamie ein – denn von den rund 11.000 Einwohnern sollen je nach Quelle sieben- bis achttausend Frauen gewesen sein. Jan van Leiden selbst heiratete Jan Mathys’ Witwe und weitere 15 Frauen. Wo die ganzen Ehemänner waren? Flucht, Hinrichtungen sowie ihr Tod während der andauernden Belagerungskämpfe mit dem Söldnerheer hatten ihren Bestand ganz schön dezimiert.
Und was sagten die Frauen zu alledem? Nun, die Täuferbewegung hatte den Frauen ja anfangs neue Handlungsspielräume in Aussicht gestellt, die im 16. Jahrhundert undenkbar schienen: Man hatte sich für ein Priestertum aller Gläubigen starkgemacht; und darum war es Frauen sogar kurzzeitig gestattet, Predigten zu halten oder in Versammlungen zu sprechen. Nachdem Jan van Leiden allerdings die Polygamie führte, reagierten die Frauen in Münster mit Ablehnung oder Widerstand – beides wurde brutal unterdrückt. Eine Flucht war lebensgefährlich und fast unmöglich, da die Ausgänge streng bewacht wurden; zumal war die Stadt ja obendrein belagert! Die Frauen Münsters wurden so zu Gefangenen in einem extremistisch-theokratischen Albtraum, in dem sie systematisch als „Gebärmaschinen“ instrumentalisiert wurden, um das „Gottesreich“ zu bevölkern. Wer widersprach, galt als Sünderin vor Gott. Denn befahl die Bibel nicht: Seid fruchtbar und mehret euch? (Das alles ist Machiavellismus in Reinform.)
Nun, gemehrt hatten sich vor allem Willkürmorde, „regelloser Geschlechtsverkehr“ und „unheilbare Krankheiten“, wie der Münster Schulrektor Hermann von Kerssenbrock (1519-1585) festhielt. Kinder wurden auf offener Straße von Männern „in ihrer Geilheit“ überfallen. Ob diese Berichte der Wahrheit entsprechen, bleibt spekulativ, doch sie werfen definitiv Fragen über die Legitimität des Herrschaftsanspruchs des Königs auf. Als das Volk im Juni 1535 völlig ausgezehrt war, sich nur noch von Unkraut und Ratten ernährte, und dennoch die versprochene göttliche Erlösung von den Feinden nicht eintrat, öffneten Überläufer die Tore der Stadt für die Truppen des Bischofs. Hunderte Täufer wurden hingerichtet, Jan van Leiden und zwei seiner engsten Vertrauten mit glühenden Zangen gefoltert, getötet und deren Leichen in Eisenkäfige gesteckt. Münster wurde wieder erzkatholisch. Und noch heute hängen die (leeren) Eisenkäfige am Turm von St. Lamberti – Richtung Süden, Richtung Rom.
Jan Mathys und Jan van Leiden hatten den Münsteranern eine Wiedergeburt versprochen – eine Renaissance sozusagen – doch bekommen hatten die Bewohner charismatische Wiedertäufer voller leerer Versprechungen, später den Terror und dann den Tod. Die Geschichte kennt viele solcher charismatischen Führer, die mit ihrer kraftvollen Ausstrahlung und ihren Visionen ganze Gemeinschaften in ihren Bann zogen. Sie versprachen eine bessere Zukunft – voller Frieden, Wohlstand und Erlösung. Doch hinter den glänzenden Gelöbnissen verbargen sich meist zerstörerische Ideologien. Diese charismatischen Persönlichkeiten verstanden es, das Vertrauen ihrer Anhänger zu gewinnen; nur um sie auf einen gefährlichen Weg zu lotsen, oft mit tödlichen Konsequenzen.

Die Eisenkäfige an der St. Lamberti-Kirche in Münster sind drei eiserne Körbe, die als „Wiedertäufer-Käfige“ bekannt sind und an der Südseite des Turms befestigt sind.
Ein weiteres Paradebeispiel für diesen gefährlichen Zauber des destruktiven Charismas ist die Geschichte von Jim Jones – einem Mann, dessen Führung und Visionen einer ganzen Gemeinschaft die ultimative Katastrophe bescherten.
Aber fangen wir von vorne an: Charismatische und ergreifende Reden zu schwingen, das schien Jim Jones (1931-1978) ausgezeichnet zu können. 1956 mietete er sich eine Synagoge in Indianapolis, die er zur „Peoples Temple Full Gospel Church“ umbenannte. Jones sah sich als gesegneten Propheten und setzte sich für die Gleichheit der Rassen und den Frieden zwischen ihnen ein, was dazu führte, dass es viele Gläubige verschiedener Hautfarben in seine Kirche zog. Zur Einordnung: All das geschah noch vor dem von US-Präsident Lyndon B. Johnson (1908-1973) verabschiedeten Civil Rights Act von 1964, welcher die Rassentrennung in zivilen Bereichen aufhob; sowie der berühmten Rede Martin Luther Kings (1929-1968), der 1963 über seinen Traum sprach.
Jones euphorisierte die Massen, indem er Obdachlosen Mahlzeiten gab und sich von gewalttätigen Rassisten nicht einschüchtern ließ. Auch wurde ihm nachgesagt, Schwerkranke wunderheilen und Tote zum Leben erwecken zu können (auch irgendwie eine Art Renaissance). Inmitten der Kuba-Krise und des Vietnam-Kriegs zog es Jones 1965 nach Kalifornien, wo ihm seine Anhänger einen neuen Peoples Temple errichteten. Ende der Sechziger plädierte er für eine grundlegende Veränderung der USA: Weg vom Kapitalismus, hin zum Sozialismus! Und er stimmte Karl Marx zu, wenn dieser behauptete, Religion würde sowieso nur zur Unterdrückung der Gesellschaft beitragen.
Seine Worte als oberster sozialistischer Prophet durften von niemandem in Frage gestellt werden, denn Zweifel an der Sekte waren galten als Zeichen von Schwäche und wurden bestraft. Darum widersprach ihm tatsächlich kaum jemand – und bald darauf schon gliederte sich die Welt der Mitglieder ausschließlich in Gut und Böse: Böse war die Ungläubigkeit, zu viel Schlaf und Aussteigen aus der Sekte. Gut war Denunziation, Überwachung und Enthaltsamkeit. Laut Jones waren sowieso alle Männer latent homosexuell veranlagt; außer ihm, der frei von solchen Zwängen war. Unter diesem Vorwand nahm er sich immer wieder das Recht heraus, junge Männer und Frauen sexuell zu bedrängen oder Beziehungen innerhalb der Sekte zu kontrollieren. Dabei griff er gezielt in bestehende Partnerschaften ein und forderte sexuelle Gefälligkeiten – auch von bereits verlobten oder verheirateten Frauen Eine Praxis, die in Teilen an das mittelalterliche „ius primae noctis“ (Recht der ersten Nacht) erinnerte.
Die Rolle der Frauen im Peoples Temple war dementsprechend ein zutiefst widersprüchliches Konstrukt aus Gleichberechtigung und systematischer Unterdrückung: Jones hatte seine Sekte anfangs als Safe Space für marginalisierte Frauen inszeniert, weswegen vor allem Afroamerikanerinnen und alleinerziehende Mütter beitraten. Dort suchten sie soziale Sicherheit, konnten politische Führungspositionen übernehmen und sogar Predigten und Rituale halten – was äußerst ungewöhnlich für christliche Gemeinden der 1960er bzw. 1970er Jahre war. Die vermeintliche Emanzipation war jedoch stark eingeschränkt, da sexuelle Ausbeutung und psychologische Versklavung an der Tagesordnung standen: So trennte Jones gezielt Ehen und Eltern-Kind-Bindungen. Kinder wurden als „kollektives Eigentum“ betrachtet und ihren Müttern weggenommen. Fluchtversuche wurden brutal bestraft. Jones stellte sich als „Vater“ aller Frauen dar, und wer ihn verließ, verriet „die Familie“. (Das ist alles schon wieder Machiavellismus in Reinform.)
(1) Jim Jones / (2) Die Bewegung mobilisierte die Massen.
© (1) wikimedia / (2) images.foxtv.com
Von diesen inneren Zuständen des patriarchalischen Terrorkults bekam die breite Öffentlichkeit erstmal lange Zeit nichts mit. Mit vollem Elan schritt Jones’ Safe Space-Bewegung weiter vorwärts und versprach lauthals utopische Zustände, die besser als jeder derzeitige Zustand der USA wären. Ebenfalls hatte Jones Glück, denn die angespannte politische Atmosphäre (Attentate auf Robert Kennedy und Martin Luther King, beide 1968) sowie die Ernüchterung und Verärgerung über den Vietnam-Krieg trieben ihm neue Mitglieder fast schon zu leicht in die Arme. Die verzweifelten Seelen fielen ihm zu wie reife Früchte vom Baum.
Während er eine immer höhere Zunahme des Stroms an neuen Mitgliedern verbuchen konnte, war das Maß für die Medien irgendwann voll: 7500 Mitglieder umfasste die Peoples Temple-Bewegung, stellten sie fest, aber warum begeisterten sich diese Menschen so für diese Sekte? Und wer war denn dieser Jim Jones überhaupt wirklich?
Die aufdringliche Neugier am Innenleben der Sekte veranlasste Jones, die Medien fortan als Teil einer Regierungsverschwörung zu betrachten. Außerdem würde die faschistische Regierung schon seit längerer Zeit Konzentrationslager für die Mitglieder des Peoples Temple planen, deklarierte er. Diese „Fake News“-Medienhetze beeinflusste die Sektenmitglieder; manche trotzten den Morddrohungen innerhalb der Organisation und informierten die Presse über die inneren Zustände der Sekte. Am ersten August 1977 erschien schließlich ein Enthüllungsbericht über den Peoples Temple, der von finanzieller Ausbeutung, Gewaltandrohung und Misshandlung sprach. Um einer Inhaftierung zu entgehen, setzte sich Jones ins sozialistisch regierte Guyana ab. Hunderte Mitglieder folgten ihm. Im dichten Dschungel gründete er „Jonestown“ und ließ es als „sozialistisches Paradies“ ausbauen – Züchtigung und Strafarbeit waren normal. In „Weißen Nächten“ fanden Prozessionen und Gottesdienste statt, in denen sich Jones in hiobsbotschaftsartiger Manier über die große Bedrohung der Vereinigten Staaten ausließ: Aufgrund der hohen Anzahl an Verrätern innerhalb der Sekte, seien sie alle zum Tode verdammt.
Derweil wurden in den USA die Unruhen immer lauter: Geschichten über die schlechte Behandlung und die physische Gewalt in Jonestown gaben sich in den Medien die Hand, weswegen eine Delegation von Journalisten und Aussteigern um den Kongressabgeordneten Leo Ryan nach Guyana aufbrach. Am 17. November landete sein Flugzeug in Jonestown. Bewaffnete Wächter führten die Delegation einen Tag später in Jonestown herum, nur wenige Sektenmitglieder trauten sich, offen anzusprechen, was die Mehrheit verzweifelt dachte: Sie wollten weg von hier.
Am 18. November kehrten Ryan und seine Gruppe mit den Ausgetretenen zum Flugzeug zurück – doch ein Attentatskommando, ausgesendet von Jones, unterbrach die Heimreise brachial: Mehrere Journalisten starben im Gewehrfeuer, Ryan ebenso. Das guyanische Militär war über diesen Vergeltungsakt natürlich nicht in Kenntnis gesetzt worden, konnte nichts mehr verhindern und kam zu spät. Die Verwundeten wurden sofort versorgt, nur die wenigsten überlebten. Die guyanische Regierung beschloss daraufhin, Jones und seine Anhänger festzunehmen.
Noch am selben Tag rückten bewaffnete Streitkräfte an und stürmten Jonestown. Jones, der keinen anderen Ausweg mehr sah – ein sich Stellen kam für ihn nicht infrage – rief seine Jünger zur Weißen Nacht. Der letzten, wie er verkündete, denn jetzt war die Zeit gekommen, in Frieden zu sterben. Zyankali wurde in einem Limonadengetränk aufgelöst und an die Sektenmitglieder jedweden Alters verteilt. Ca. 920 Erwachsene, Kinder und Säuglinge starben in jener Nacht. Viele Frauen vergifteten freiwillig ihre Kinder, weil Jones sie überzeugte, der Tod sei „befreiend“. Andere wurden mit Waffen gezwungen. Man geht heutzutage davon aus, dass es sich bei mindestens 250 Säuglingen und Kindern um Mord handelte – sie waren Opfer ihrer eigenen Mütter geworden: Ein Akt, der auf die jahrelange Gehirnwäsche der Frauen zurückging.
Dieses Ereignis trug sich als eines der schlimmsten Fälle von Massensuizid in die Geschichtsbücher ein.
(1) Eingang nach Jonestown, 1978 / (2) Struktur von Jonestown / (3) Die Toten von Jonestown
© (1) + (2) + (3) wikimedia
Was sagen uns diese Geschehnisse? Haben Sie einen kühlen Kopf bewahrt?
Charismatische Führer wie Jim Jones vom Peoples Temple, aber auch Jan van Leiden in Münster üben eine faszinierende und zugleich beunruhigende Anziehungskraft aus. Ihre Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren, lässt sich durch mehrere psychologische und soziale Mechanismen erklären.
In unsicheren Zeiten – sei es wegen politischer Unruhen, wirtschaftlicher Instabilität oder persönlicher Krisen – suchen Menschen nach klaren Antworten, einfachen Lösungen, starken Identifikationsfiguren und einer stabilen Gemeinschaft.
Das können Charismatiker bieten: Sie predigen eine visionäre Zukunft (z.B. das „Neue Jerusalem“ in Münster oder das „sozialistisches Paradies“ Jonestown) und schenken gleichzeitig ein Gefühl der Exklusivität („Wir sind die Auserwählten, die eine bessere Welt bauen.“). So nutze Jim Jones beispielsweise die Rassenunruhen und Proteste gegen den Vietnamkrieg der 1970er, um seine Anhänger als „Opfer eines korrupten Systems“ zu inszenieren und dadurch als Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Er sprach Ängste an, während er gleichzeitig Erlösung versprach. Studien zeigen, dass Menschen in Stresssituationen eher autoritären Persönlichkeiten folgen, die Klarheit suggerieren – selbst, wenn diese irrational handeln (Adorno, 1950).
Was sowohl Jan van Leiden als auch Jim Jones in die Hände spielte, war stets die Situation der physischen und sozialen Isolation ihrer Anhänger: Während die Stadt Münster unter Belagerung stand, wurde Jonestown im Dschungel errichtet. Beide Gemeinschaften wurden damit auch von „Ungläubigen“ abgeschottet, wodurch die Abhängigkeit vom Führer verstärkt wurde, der für die Gemeinschaft zum alleinigen Tor zu Wahrheit und Information wurde.
Der deutsche Soziologe Max Weber definierte Charisma einst als eine „außeralltägliche Qualität“, die einer Person von anderen zugeschrieben wird. Zwar betonen neuere Forschungen (z.B. Antonakis (2011, 2012)), dass Charisma erlernbar ist – etwa durch rhetorische Techniken wie das Bilden ansehnlicher Metaphern oder mittels nonverbaler Signale wie Augenkontakt und Gestik – entscheidend ist allerdings die Wahrnehmung der Anhänger: Sie projizieren ihre Hoffnungen auf den Führer, der diese gezielt bedienen muss.
Ebenfalls zeigen Forschungsarbeiten (etwa wie die Arbeiten von Howard (1993) zu Münster oder Puls (2020) zu narzisstischen Pastoren), dass viele charismatische Führer pathologische hohe Ausprägungen an Narzissmus und Paranoia aufweisen. Aber auch wenn Charismatiker vielleicht Meister der Rhetorik und Emotionalisierung sein mögen, insgesamt sind nicht alle Charismatiker destruktiv – die Forschung unterscheidet hier zwischen ethischem (z.B. Martin Luther King) und unethischem Charisma (z.B. Jim Jones).
Nun lassen wir’s mal gut sein mit dieser zerstörerischen Anziehungskraft. Sollten wir doch vielmehr die schöpferische Ausstrahlung bewundern, zum Beispiel die der anfangs genannten Renaissance-Künstler. Botticelli zum Beispiel: Der schuf mit La Primavera (Der Frühling) ein Kultbild der platonischen Liebe: In einer kunstvollen Allegorie – der bildhaften Darstellung eines abstrakten Gedankens – wendet sich der Himmel voller Leidenschaft der Erde zu und erweckt sie durch die Macht des Frühlings zu neuem Leben.
Oder Raffaello Santi: Die Lieblichkeit seiner Marienbilder wurde von niemandem übertroffen. Kleiner Tipp: Besuchen Sie mal sein Museum in Urbino! Aber auch Dresden wäre eine Option: Dort hängt seine Sixtinische Madonna, die als das Paradebild der Gottesmutter angesehen wird.
Ach, und ja, ich hab’s übrigens nicht vergessen: Haben Sie sich anfangs Eiscreme geholt, bevor Sie den Text gelesen haben? Ich selbst bin immer überrascht, wie schnell meine Portion aus der Schüssel „verschwunden“ ist.
Und wo wir gerade dabei sind: Was ist denn Ihr Lieblingseis? Es gibt ja so viele Sorten! Nun, vielleicht hat es kein Tausendjähriges Reich gegeben – aber dafür sind wir seit über tausend Jahren reich an Eiscreme.

Die Sixtinische Madonna von Raffaello ist eines der berühmtesten Gemälde der italienischen Renaissance und befindet sich seit 1754 in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden. Besonders bekannt daraus sind die beiden Engelchen am unteren Bildrand, die als eigenständiges Motiv weit verbreitet sind. Sie erscheinen häufig in Werbung sowie auf Postern und Postkarten.
_____________________
Genderhinweis: Allein aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
_____________________
Quellen (Text):
Adorno, T. W. (1950). Types and syndroms. The authoritarian personality, 744-783.
Anonymous. (2025). Who invented Ice Cream? – History of Ice Cream. https://www.icecreamhistory.net/frozen-dessert-history/who-invented-ice-cream/ (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025).
Antonakis, J. (2012). Transformational and charismatic leadership. The nature of leadership, 256-288.
Antonakis, J., Fenley, M., & Liechti, S. (2011). Can charisma be taught? Tests of two interventions. Academy of Management Learning & Education, 10(3), 374-396. https://doi.org/10.5465/amle.2010.0012
Breslauer, G. (2023). Der Peoples Temple startete als sozialistische Sekte und endete im Massensuizid. https://jacobin.de/artikel/der-peoples-temple-startete-als-sozialistische-sekte-und-endete-im-massensuizid-jonestown-jim-jones (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025).
Chidester, D. (2003). Salvation and suicide: an interpretation of Jim Jones, the Peoples Temple, and Jonestown. Indiana University Press.
Club Coupe du Monde Team USA. (2023). A Sweet Discovery: The History of Ice Cream. https://pastryteamusa.com/a-sweet-discovery-the-history-of-ice-cream/ (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025).
Howard, T. (1993). Charisma and History: The Case of Munster, Westphalia 1534-1535. Essays in History, 35.
Lutherbibel. (2017). Das goldene Kalb. https://www.bibleserver.com/LUT/2.Mose32 (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025).
Münster Marketing. (2023). Radverkehrsbericht Münster 2018 bis 2022. https://www.stadt-muenster.de/fileadmin/user_upload/stadt-muenster/61_verkehrsplanung/pdf/p-RVB-MS_Digitalversion_230912.pdf (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025).
Puls, D. (2020). Narcissistic pastors and the making of narcissistic churches. Great Commission Research Journal, 12(1), 67-92.
Wikipedia. (2025). Yachtschal. https://de.wikipedia.org/wiki/Yachtschal (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025).
Schwanitz, D. (2021). Bildung: Alles, was man wissen muss. München. Goldmann Verlag.
Stark, F. (2018). Wiedertäufer in Münster – „Unzeitige Liebe mit zarten kleinen Mädchen“. https://www.welt.de/geschichte/article176199964/Wiedertaeufer-in-Muenster-Unzeitige-Liebe-mit-zarten-kleinen-Maedchen.html (Zuletzt abgerufen am 21.04.2025)
Quellen (Bilder):
- Hauptbild: Craiyon, pixabay, dreamstime

Nicolas Bauder
Chefredakteur