Thema, Wechselwirkungen Spezial

Wechselwirkungen – Krieg und Medikamente

28. Feber 2021
Viele Entwicklungen und auch die Verbreitung vieler Medikamente sind auf außergewöhnliche Situationen zurückzuführen. In diesem Beispiel wird von einem Arzneimittel berichtet, das sich im Krieg verbreitete und die womöglich bekannteste solcher Geschichten darstellt: “Pervitin”, ein Amphetamin. Vom aufgeputschten Soldaten bis hin zum kleinen Jungen mit ADHS: Amphetamine haben eine ganz besondere Geschichte vorzuweisen.
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von Moritz Sigg

Entdeckung und erste Vermarktungen

Die Ursprünge von Amphetaminen liegen wohl noch weiter zurück als viele denken würden. Bereits 1887 synthetisierte der rumänische Doktorand Lazăr Edeleanu im Rahmen seiner Doktorarbeit das erste Mal Amphetamin. Zuerst wurde es als Appetithemmer, aber auch als Wachhaltemittel bei Studierenden im Prüfungsstress getestet. Den Namen Amphetamin prägte Gordon Alles ab dem Jahr 1927, indem er die Anfangsbuchstaben des chemischen Namens aneinanderreihte (alpha-Methylphenethylamin). Durch den amerikanischen Pharmakonzern „Smith, Kline & French“ gelang der medizinische Durchbruch unter dem Namen „Benzedrine“ auf dem amerikanischen Markt und unter „Benzedrin“ auf dem deutschen in der Therapie von Asthma als Bronchospasmolytikum. Einige Jahre später wurde die aufputschende Wirkung der Amphetamine bekannt und daraufhin zur Narkolepsie-Behandlung großflächig eingesetzt. Der Psychiater Charles Bradley verabreichte 1937 erstmals Benzedrin an verhaltensauffällige Kinder, und da dies auch in einer wiederholten Studie von Erfolg gekrönt war, gilt er als einer der Pioniere der Psychopharmakotherapie bei Kindern. Bis zum Ende der 30er-Jahre waren Amphetamine das Allheilmittel. Sie wurden eingesetzt als: Appetithemmer, Erkältungsmittel, Antikatermittel, Antiemetika (Stoffe, die den Brechreiz unterdrücken) und vieles mehr.

Strukturformel von (S)-N-Methylamphetamin.

Verwendung im 2. Weltkrieg 

Ein Jahr nach der Patentierung brachten die Berliner Temmler-Werke (eine deutsche Pharmafirma) 1938 das Amphetamin-Derivat “Methamphetamin” unter dem Namen „Pervitin“ auf den Markt.

Schnell wurde die deutsche Armee auf dieses synthetische Stimulans aufmerksam und kaufte große Mengen davon. Mit der Einnahme sollte die Angst der Soldaten abgeschwächt und gleichzeitig die körperliche und geistige Aufmerksamkeit gestärkt werden.

Zu Beginn reglementierten noch kleinere Sanitätsgruppen die Abgabe von Pervitin, um die Jahre 1942/43 ging die Kontrolle, an wen und wie viel Pervitin vergeben wurde jedoch verloren.

Nicht nur Soldaten, sondern auch die restliche Bevölkerung war dem Pervitin-Wahn verfallen. Zuerst wurde es nur zur Antagonisierung von Narkosen verwendet, später aber auch von Schokolade ummantelt als Pervitin-Pralinen vermarktet. In der Bevölkerung waren kuriose Bezeichnungen wie „Panzerschokolade“ oder “Hermann-Göring-Pillen” im Gebrauch.

In der Zeit von April 1940 bis Juni 1940 (3 Monate während des Westfeldzugs) bezog die deutsche Wehrmacht 35 Millionen Tabletten Pervitin. Das ist bei Zahlen von 5,7 Millionen Soldaten der deutschen Armee im Jahr 1940 eine immense Menge an Medikamenten.

Deutsche Soldaten sollen auch beim verlorenen Russland-Feldzug, vor allem in der “Schlacht um Stalingrad“, unter massivem Pervitin-Einfluss gestanden haben, damit sie die Eiseskälte überstehen und weiter Richtung Front marschieren konnten. Mit der Hilfe von Pervitin sollte aber in erster Linie die beeinträchtigende Müdigkeit umgangen werden und die Wehrpflichtigen waren somit statt 16 Stunden bis zu 32 Stunden und darüber hinaus einsatzbereit. Den nicht getätigten Schlaf musste der Körper natürlich früher oder später nachholen, weshalb eine Theorie besagt, dass die “Schlacht von Stalingrad” unter anderem aufgrund besagter Müdigkeit der Soldaten in einer Niederlage endete.

Bereits 1940 sprach der damalige „Reichsgesundheitsführer“ und NS-Verbrecher Leonardo Conti davon, dass man die Müdigkeit nicht nachhaltig beseitige, sondern dass diese einfach nur kurzfristig postponiert werde – mit dem Risiko des späteren Zusammenbruchs der Leistungsfähigkeit. Da der Konsum bis Mitte 1941 weiterhin anstieg, war Pervitin aufgrund eines geänderten Reichsopiumgesetzes nur noch auf Rezept erhältlich, was zu einem massiven Rückgang des Konsums führte.

Foto von Stijn Swinnen auf unsplash.com. © Frei. 

Verwendung nach dem Krieg

Auch nach Kriegsende belieferten die Temmler-Werke die deutsche Bundeswehr noch bis in die 70er-Jahre und die NVA (Nationale Volksarmee der DDR) bis 1988 mit Pervitin. In Japan, Amerika und auch Nordeuropa nahm der Substanzmissbrauch stetig zu. Im Jahre 1970 wurde in den USA und 1981 in Deutschland der Handel, Besitz und die Herstellung ohne Genehmigung unter Strafe gestellt.

Anwendung bis heute

Amphetamine und Dexamphetamine werden auch heute noch zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) eingesetzt, sofern unter der Therapie von Methylphenidat (Ritalin®) und Atomoxetin (Strattera®) keine ausreichenden Erfolge verzeichnet werden können.

Auch bis vor wenigen Jahren setzte die US Air Force “Go-Pills” und “NoGo-Pills” für lange Flugmissionen ein. Bei anfangender Müdigkeit sollten die Pilot:innen die “Go-Pills Amphetamine“ einnehmen und nach der Mission zum Schlafen “NoGo-Pills”, welche starke Schlafmittel und Benzodiazepine (z.B. Temazepam) enthalten.

Quellen:

Moritz

Moritz

Redakteur