Interview mit einer Lipödem-Betroffenen
Ich möchte einmal ganz von vorne anfangen. Wann hat sich das Lipödem bei dir das erste Mal bemerkbar gemacht?
Ich war bis zur 2. Klasse Volksschule normalgewichtig. Über den Sommer auf die dritte Klasse habe ich dann auf einmal 10 kg zugenommen und in der 4. Klasse wurde ich dann in Innsbruck deswegen untersucht. Als Kind habe ich eigentlich nie eine Information dazu bekommen. Ich war dann 3 Monate in Innsbruck in Behandlung und habe in dieser Zeit von allen Kindern am wenigsten gegessen. Ich habe in dieser Zeit aber höchstens 2 kg abgenommen. Also lag es nicht am Essen, das wussten sie dann, aber nicht woran sonst. Dann hatte ich gewichtsmäßig einen Stillstand, so bis 13/14, und dann hatte ich das erste Mal das an den Beinen. Ich war davor schon übergewichtig, eigentlich immer schon, aber dort hatte ich zum ersten Mal das mit den Beinen.
Kannst du uns sagen, was „das mit den Beinen“ bedeutet? Für alle, die sich darunter nichts vorstellen können.
Dass meine Waden dick wurden. Der Fuß blieb normal, aber von da aufwärts hatte ich dicke Beine. Als ich dann angefangen habe zu arbeiten und mich viel bewegt habe, habe ich abgenommen, aber meine Beine sind mir geblieben. Ich hatte davor knapp 100 kg und bin dann auf 73 kg hinuntergekommen, hatte aber immer noch diese dicken Beine.
Und wie ging es dann für dich weiter?
Mit Anfang 20 habe ich mir deswegen das erste Mal ärztliche Hilfe gesucht. Dort hat mir jeder gesagt, ich solle abnehmen. Wegen des Übergewichts wurde ich dann auch behandelt, aber für meine Beine hat sich einfach niemand interessiert. Dadurch, dass ich sowieso auch übergewichtig war, dachten wahrscheinlich alle, das ist normal. Aufgefallen ist es eigentlich erst, als ich abgenommen habe.
Und wie sind die Ärzt:innen damit umgegangen? Wann hast du denn die Diagnose bekommen?
Herausgefunden, dass es ein Lipödem ist, habe ich eigentlich erst, als meine Tochter schon geboren war. Von Ärzt:innen wurde mir immer wieder gesagt, ich solle abnehmen. Als ich mit meiner Tochter schwanger war, wurde mir dann das Magenband vorgeschlagen. Damit habe ich 43 kg abgenommen, aber meine Beine sind mir geblieben. Weil alle dachten, es wären Wassereinlagerungen, hatte ich irgendwann Kontakt zu einem Spezialisten an einer Klinik in Graz, der mich zur vorherigen Abklärung ins Krankenhaus zuhause [Vorarlberg] schickte. Der Arzt dort hat mich dann untersucht und meinte, es wäre kein Wasser. Ich habe dann nachgefragt, was es sonst sei, und er meinte nur: „Halt Fett“. Das war für mich der Moment, an dem ich dem nicht weiter nachgegangen bin. Ich habe diesem Arzt in Graz Bescheid gegeben, mich bedankt und das nicht mehr weiterverfolgt. Ungefähr 10 Jahre später, mit 50, habe ich im Fernsehen „Volksanwalt“ angeschaut. Da ging es um eine Frau, bei der ich mir dachte: „Die hat genau meine Beine.“ Also genau dasselbe Bild mit dem normalen Vorfuß und den dicken Beinen. Daraufhin bin ich zu meinem Hausarzt gegangen, habe ihm das erzählt und dass das „Lipödem“ heißt, und habe ihn darum gebeten, zu schauen, ob ich das vielleicht auch habe. Er ist dann leider kurzfristig verstorben und ich wurde ungefähr ein Jahr später von seinem Nachfolger zum Kardiologen weiterüberwiesen. Bei diesem Kardiologen kam ich dann rein und er hat gesagt: „Ich muss dich gar nicht untersuchen. Ich muss dich nur anschauen und sehe, dass das ein Lipödem ist.“ Der wusste es sofort, als er mich angeschaut hat. Das war der erste Doktor, der es mir bestätigt hat.
Viele Menschen mit Lipödem empfinden starke Schmerzen in den betroffenen Körperregionen. Wie sieht das bei dir aus?
Nach der Schwangerschaft mit meiner Tochter wurde mein Lipödem schlimmer, dort habe ich das das erste Mal gespürt. Ich hatte davor schon Schmerzen, aber das war mir nie so bewusst. Richtig bemerkt habe ich es dann, als meine Tochter klein war und sie auf meine Beine gesessen ist. Oder wenn unsere Katze auf meine Beine steigt, das habe ich heute noch. Diese 4 kg spüre ich wirklich. Vorher dachte ich immer, es sei das Übergewicht und das Arbeiten, ich hatte ja immer stehende Berufe. Ich glaube, ich war die Schmerzen einfach gewohnt.
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Du hast ja relativ spät erfahren, dass du ein Lipödem hast. Wie wurdest du dann diesbezüglich behandelt?
Gar nicht. Naja, mit Kompressionsstrümpfen, aber in denen hatte ich solche Schmerzen, dass ich sie nie länger als einen halben Tag tragen konnte. Lymphdrainagen hatte ich auch, aber das hat mir dann eigentlich gar nicht so viel geholfen, weil ich das ja nicht dann machen konnte, wenn ich Schmerzen hatte. Und eine Fettabsaugung wurde mir auch vorgeschlagen, aber das wusste ich dort schon, dass ich das in meinem Alter nicht mehr will. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich das auf jeden Fall machen lassen.
Man wird ja ein Stück weit zur Expertin für die eigene Erkrankung, wenn man sie so lange hat. Hast du noch andere Dinge herausgefunden, die dir Besserung bringen?
Für mich ist ein warmes Bad das, was mir am meisten hilft. Ähnlich wie bei meiner Lymph-Hose merke ich dann einfach, dass wie bei einer Lymphdrainage „Wasser“ aus den Beinen verschwindet. Und eben diese Lymph-Hose. Die ist eigentlich sehr teuer, aber ich habe irgendwann eine gebrauchte für zuhause gekauft. Die zieht man an und die macht dann mit Luft wie so eine Art Lymphdrainage.
Ein wenig haben wir dieses Thema schon angeschnitten. Wie ist es denn mit einem Lipödem zu leben und wie einschränkend ist es vielleicht auch für dich?
Im Alltag ist ein Problem sicher die Kleidung. Ich habe mein Leben lang nie eine kurze Hose getragen, sondern bin im Sommer immer in langen Jeans herumgelaufen. Früher habe ich auch schlecht Hosen bekommen, die mir passen. Ich musste meine Hosen oft 3 Nummern größer kaufen, weil sie mir an den Beinen nicht gepasst haben und ich in engen Hosen Schmerzen hatte. Stiefel konnte ich noch nie anziehen, auch keine Winterstiefel. Ansonsten muss ich sagen, war das größte Problem für mich immer das optische: baden gehen oder wenn ich früher noch Röcke anhatte. Da haben mich Kinder oder andere Leute angesprochen, warum ich so dicke Beine habe. Darum habe ich irgendwann nur noch lange Hosen angezogen.
Wenn dir ein Geist in der Flasche bezüglich des Lipödems einen Wunsch erfüllen würde, was wäre das dann?
Dass meine Beine schmal wären.
Darf ich fragen warum? Sind das rein ästhetische Gründe oder auch andere Dinge, die dich daran stören?
Dadurch, dass ich jetzt nicht mehr solche Schmerzen habe, mehr wegen des Aussehens. Und natürlich auch, weil man sich dadurch mit Treppensteigen und mit Bewegung allgemein immer schwerer tut.
Jetzt ein extremer Themenwechsel. Hast du das Gefühl, dass Ärzt:innen grundsätzlich über die Erkrankung Bescheid wissen?
Nein. Ein ganz klares Nein. Außer dem Kardiologen habe ich niemanden getroffen, der darüber Bescheid wusste. Und das ist eine Wohltat für jemanden, der zu so vielen Ärzt:innen geht. Dem alle sagen „Abnehmen, Abnehmen, Abnehmen“. Dem niemand glaubt, dass man nicht den ganzen Tag Essen in sich hineinstopft. Wenn man dann zu jemandem kommt, der dich nur anschaut und Bescheid weiß, dann ist das eine Wohltat.
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Hat dich je jemand gefragt, was oder wie viel du isst?
Nein, alle haben nur gesagt, ich müsse abnehmen. Ich war schon froh, als ich das Magenband bekommen habe. Ich habe meinen Körper im Prinzip verhungern lassen, ich konnte ja nichts mehr essen. Dort habe ich in kürzester Zeit 43kg abgenommen. Nur die Beine sind mir geblieben. Ich habe dann auch wieder 23kg zugenommen, obwohl ich nicht mehr essen konnte. Das passt mit meinem Essverhalten nicht zusammen.
Gibt es Erfahrungen mit Ärzt:innen, die dir in Erinnerung geblieben sind?
Ja. Zum Beispiel der Arzt, der meinte „Halt Fett“. Das war für mich eine totale Ohrfeige, wie er das gesagt hat. Mein Hausarzt, der bereit war, dem nachzugehen. Damals hatte ich das erste Mal die Hoffnung, dass sich diesbezüglich etwas tut. Auch der Kardiologe, der mir bestätigt hat, dass es ein Lipödem ist, hat mir damit ein total gutes Gefühl gegeben, weil ich dann endlich wusste, was es ist.
Wir haben jetzt doch sehr viel geredet. Auch über Dinge, die schon lange zurückliegen. Wie fühlt es sich an, etwas, was dich doch schon so lange begleitet, Revue passieren zu lassen und das jemandem zu erzählen?
Man holt einfach alles wieder hoch, das Gute wie das Schlechte. Das merkst du ja, wenn ich davon erzähle, was positiv und was negativ war für mich. Aber das ist ja oft so. Und ich glaube, es ist für alle Menschen schlimm, zum Arzt zu gehen, weil es einem nicht gut geht, nur um dann nicht wahrgenommen zu werden.
Jetzt noch eine wichtige Frage für uns und unsere Leser:innen: Was würdest du dir mit deinen Erfahrungen von uns als Mediziner:innen oder medizinischem Personal wünschen?
Im Prinzip müsste man auf Anhieb sehen können, ob jemand einfach nur übergewichtig ist oder ein Lipödem hat. Der Kardiologe hat mich bloß angeschaut und wusste, dass es ein Lipödem ist. Ich erwarte mir, dass man so etwas sieht und erkennt, ob es nur an der Ernährung liegt oder nicht. Ich hatte ja auch immer super Blutwerte. Mich hat auch nie jemand gefragt, was oder wie viel ich esse. Auch mein Magenband habe ich eigentlich bekommen, ohne dass man sich vorher erkundigt oder informiert hat. Es glaubt dir niemand, dass das nicht vom Essen kommt. Ich wünsche mir, dass Ärzt:innen darüber nachdenken, dass es auch von etwas anderem kommen kann als vom Essen. Und eben, dass man diesen Menschen einfach glaubt. Damit habe ich mein Leben lang immer gekämpft. Dass Leute glauben, man sei selbst schuld, man habe das einfach hinaufgefressen. Das finde ich das Schlimmste.
An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle, die an diesem Artikel mitgewirkt haben. Vielen Dank an dich, Rosi, für dein Vertrauen mit deinen Erfahrungen und für die Möglichkeit, hier über eine wichtige und mit Vorurteilen behaftete Erkrankung sprechen zu können. Vielen Dank an Herrn Dr. Brenner, der die Bilder zur Verfügung gestellt hat, damit unsere Leser:innen sich unter dem Erzählten auch etwas vorstellen können.
Falls euer Interesse nun geweckt wurde, freut euch über ein tolles Experten-Interview über das Lipödem mit Herrn Prof. Dr. Brenner im kommenden Semester!
Quellen (Text):
- Pschyrembel Online | Ödem
- λίπος – Deutsch-Übersetzung – Langenscheidt Griechisch-Deutsch Wörterbuch
- Lipoedem-22-1-24-komplett (awmf.org)
- Lipödem – Pathogenese, Diagnostik und Behandlungsoptionen (aerzteblatt.de)
Quellen (Bilder):
- Hauptbild: Medicus-Bilderredaktion / Prof. Dr. Brenner
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Katharina Gotwald
Redakteurin