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Ringvorlesung der Medizinischen Universität Innsbruck: Gesundheit von Menschen mit Behinderung

16. Jänner 2025
Die diessemestrige Ringvorlesung der Medizinischen Universität Innsbruck zeigt eindrucksvoll, wie wichtig ein offener und respektvoller Umgang mit Menschen mit Behinderungen ist. Der Medicus war bei den Vorträgen dabei!
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von Julia Rues, Laura Steiner und Nicolas Bauder

Der Mensch ist nicht behindert, sondern wird behindert, das zu tun, was er möchte

Die diessemestrige Ringvorlesung der medizinischen Universität Innsbruck dreht sich rund um das Thema Menschen mit Behinderung. Vortragende waren aus allen möglichen Bereichen wiederzufinden. Humangenetiker:innen, Sozialarbeiter:innen, Physiotherapeut:innen und verschiedenste Fachärzt:innen haben mit ihren spannenden und lehrreichen Vorträgen einen großen Teil zum Verständnis des Umgangs mit Menschen mit Behinderung beigetragen.

Zu Beginn erläuterte Univ.-Prof.in Dr.in Sabine Ludwig, Direktorin des Instituts für Diversität in der Medizin, wichtige Begriffsbestimmungen und Konzepte der diversitäts- und geschlechtersensiblen Medizin. Ein besonderer Fokus lag hierbei auf der Situation von Frauen mit Behinderung, da sie eine verstärkt vulnerable Personengruppe darstellen, und den Faktor der Intersektionalität vergegenwärtigen. Intersektionalität meint das Auftreten verschiedener Formen von Diskriminierung gegenüber einer Person in unserer gesellschaftlichen Realität.

Georg Ebster (ÖH Referat: Studieren mit Beeinträchtigung(en)) & Univ.-Prof.in Dr.in Sabine Ludwig, MSc, MA.  © Medicus / NB

Genetische Diagnostik: Wir sind so, wir wie uns wahrnehmen

Ein herausragender Vortrag war der von Univ.-Prof. Dr. med. Johannes Zschocke, Ph.D., der die genetischen Grundlagen von körperlichen und geistigen Behinderungen anschaulich darlegte und somit zu verbessertem Verständnis und Bewusstwerdung genetischer Erkrankungen führt.

Dabei stand die Frage im Fokus: Ist eine genetische Veränderung Krankheit oder Individualität? Die Antwort liegt oft in der Interpretation. Beispiele wie Myotone Dystrophie, Williams-Beuren-Syndrom und Phenylketonurie illustrierten, wie genetische Diagnosen Therapie und Beratung unterstützen können. Eine Mikroduplikation 22q11, die bei etwa 1:2000 Neugeborenen auftritt, zeigt ein breites Spektrum an Symptomen, von Lernschwäche bis zu geistiger Behinderung. Sie wird in zwei Dritteln der Fälle vererbt, was die Bedeutung einer umfassenden genetischen Beratung betont.

Die Trio-Analyse, bei der das Genom von Betroffenen und ihren Eltern untersucht wird, ist ein unverzichtbares Instrument, um die genetische Ursache von Entwicklungsstörungen zu erkennen. Dabei wird deutlich, dass genetische Beratung nicht nur Diagnosen ermöglicht, sondern auch emotionale und praktische Unterstützung bietet.

Psychische Erkrankungen, die oft im späteren Leben auftreten, lassen sich hingegen nicht direkt durch Sequenzierungen feststellen. Der Fokus liegt hier auf der Identifizierung von Risikofaktoren und der frühzeitigen Prävention.

Genetische Diagnostik und Beratung mit Univ.-Prof. Dr. med. Johannes Zschocke, Ph.D.  © Medicus / NB 

Zahnmedizin und Behinderung: Barrierefreiheit und Herausforderungen

Einen weiteren Beitrag lieferte PD DDr.in Dagmar Schnabl von der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik, die auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung in der Mundhygiene und Zahnmedizin einging. Häufig sind diese Patienten durch eingeschränkte motorische Fähigkeiten oder intellektuelle Beeinträchtigungen nicht in der Lage, ihre Mundhygiene selbstständig durchzuführen, was ein erhöhtes Risiko für Karies und Parodontitis zur Folge hat.

Frau Schnabl erläuterte die Zusammenhänge zwischen Plaqueentfernung, Zahnsteinbildung und Erkrankungen wie Gingivitis oder Parodontitis. Besonders wichtig sei die Verwendung geeigneter Zahnbürsten, darunter spezielle Modelle mit drei Bürstenköpfen, die besonders für Menschen mit motorischen Einschränkungen geeignet sind.

Auch die Betreuung von Menschen mit schwerer Behinderung am Zahnarztstuhl stellt eine Herausforderung dar. Geduld, Empathie und spezialisierte Behandlungsstrategien sind hier essenziell. Trotz der langen Wartezeiten konnten seit 2002 in Innsbruck zahlreiche Prothesen für Menschen mit Behinderungen gefertigt werden, wobei jedoch viele Patienten aufgrund ihrer Komplexität unter Vollnarkose behandelt werden müssen.

Zahnmedizinische Herausforderungen bei Menschen mit Behinderung – präsentiert von PD DDr. Dagmar Schnabl  © Medicus / NB 

Studium, Sport und Alltag mit Behinderung

Darüber hinaus wurde von mehreren Vortragenden, unter anderem von Mario Graus, MSc (Segelsportler, Monoskifahrer und Paragleiterpilot) in der Vorlesung für Sport mit Behinderung über die verschiedenen Facetten in diesem Bereich aufgeklärt. Ein zentraler Aspekt dieses Vortrages war, dass der Grad einer Beeinträchtigung in den meisten Sportarten grundlegend für eine faire Bewertung ist. Jedoch stellt der Segelsport in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, denn im Parasailing ist die größte Hürde, die überwindet werden muss, die vorbereitenden Aufgaben bis der oder die Sportler:in zum Start im Boot sitzt. Um die Thematik des Segelns und vor allem des Parasegelns besser zu verstehen, wurden von Dr.med.univ. Wietzorrek, einem selbst passionierten Segelsportler, die Regeln des Sportes genauer erläutert. Darüber hinaus wurden Themen wie Paracycling und Skifahren mit Behinderung vorgestellt.

 

Einer der wichtigsten Bestandteile im Leben von Menschen mit Behinderung stellt die Wahl der Karriere und den damit verbundenen Chancen sowie Herausforderungen dar. In Österreich leben rund 1,3 Millionen Menschen mit Behinderungen, was etwa 20 % der Bevölkerung entspricht. Besonders relevant ist, dass ein Großteil dieser Behinderungen erst im Laufe des Lebens auftritt, häufig durch Krankheiten, Unfälle oder das fortschreitende Alter, und dass die Mehrheit der Behinderungen „unsichtbar“ ist. Für Studierende mit Behinderung bedeutet dies oft, mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert zu sein, sei es durch bauliche Barrieren (die MUI hat z.B. keine Rampen für Rollstuhlfahrer), mangelnde Unterstützung oder Vorurteile.
Besonders problematisch ist die Tendenz, die Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung zu unterschätzen, was nicht nur die Bildungschancen, sondern auch die langfristigen beruflichen Perspektiven beeinträchtigen kann.

Um echte Chancengleichheit zu schaffen, ist ein Paradigmenwechsel erforderlich: Weg von einem defizitorientierten Blick – und hin zu einer wertschätzenden Perspektive, die die Potenziale aller Menschen anerkennt.

Hochschulen tragen hier eine besondere Verantwortung, beispielsweise durch barrierefreie Lehrmaterialien, gezielte Unterstützungsangebote oder das Sichtbarmachen von Hilfsmitteln wie Gebärdensprachdolmetscher:innen, die für gehörlose Studierende unverzichtbar sind. Denn für viele Gehörlose ist Deutsch eine Fremdsprache, und Lippenlesen reicht oft nicht aus, um den vollen Vorlesungsinhalt zu erfassen. Menschen im Autismus-Spektrum oder mit psychischen Gesundheitsproblemen benötigen zudem oftmals angepasste Lernumgebungen, um Überforderung zu vermeiden.

Bild 1: Gebärdendolmetscherin Claudia Baier und ÖH-Referent Georg Ebster

Bild 2: Gebärdendolmetscherin Katrin Laier

Bild 3: Gibt es passende Zahnbürste bei oralen Behinderungen?

Bild 4: Das behindertengerechte Parasailing-Boot

© Medicus / NB 

Diese Vielfalt erfordert von Universitäten nicht nur technische, sondern auch gesellschaftliche und mentale Barrierefreiheit – nur so wird Bildung wirklich inklusiv.

Ein nicht zu außer Acht lassender Fakt bezüglich des Umgangs mit Menschen mit Behinderung ist, dass diese Personengruppe einem 1,5-fach erhöhten Risiko ausgesetzt sind, sowohl psychischer als auch physischer Gewalt. Vor allem Mädchen und Frauen sind besonders oft davon betroffen. Es liegt an der Gesellschaft, Raum für Inklusion zu schaffen und solche traumatischen Vorkommnisse in der Vergangenheit zu lassen und die bereits betroffenen Personen tatkräftig zu unterstützen.

Dieser Denkansatz führt uns zum Grundgedanken dieser Ringvorlesung – sich selbst und seine eigenen Verhaltensmuster zu hinterfragen.

 

Die Kernbotschaft der Vorlesung: Behinderung ist keine Schwäche, sondern eine Herausforderung, die durch Inklusion und gesellschaftliches Umdenken überwunden werden kann. Nur durch die Förderung von Diversität und das Aufbrechen von Barrieren kann echte Chancengleichheit geschaffen werden.

 

Die letzten drei Termine im Jänner stehen bereits fest (siehe Bild unten). Alternativ könnt ihr die Vorlesung auch jederzeit bequem per Livestream verfolgen!
Julia Rues

Julia Rues

Redakteurin

Laura Steiner

Laura Steiner

Redakteurin

Nicolas Bauder

Nicolas Bauder

Redakteur

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