Thema, Kommentar

Gefangen in Level 0

13. Feber 2025
Unsere Umstände verändern unser Sein. [Kolumne]
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von Gianluca Purzer

Eine Milliarde Menschen beginnen ihren Tag mit einer Tasse Kaffee. Für viele davon ist Kaffee nicht nur wohltuender Muntermacher, sondern Ritual. Zeremonie. Teil ihrer Kultur. Eines ist uns allerdings nicht immer gegenwärtig. Die im Kaffee enthaltenen Stoffe verändern uns. Sie verändern unser Zusammenleben. Sie haben unser kollektives Bewusstsein bereits derart verändert, dass die Veränderung unsichtbar geworden ist.

 

Der tägliche Konsum von Koffein ist eine Sucht. Subtiler und unauffälliger als jene Stoffe, die wir normalerweise mit einer Sucht identifizieren. Stoffe, die der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und der darauf bauenden Lebensmöglichkeiten einschränken, wenn nicht gar zerstören. Dies ist der Kaffee nicht. Aber dennoch eine Sucht. Ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Mit jeder Tasse verändert das Koffein die Funktionen unseres Körpers.

Das müssen wir erst einmal schlucken. Denn Sucht kehrt bekanntermaßen unsere Vorstellung von Handlungsfreiheit auf den Kopf. Gerne glauben wir, dass es einen externen Zweck für Dinge gibt, die wir tun, und dass wir es sind, die uns selbst auf diese Zwecke ausrichten: Ich trinke Kaffee, um mein Gedächtnis zu verbessern. Ich trinke Kaffee, um meine Wachsamkeit bei der Arbeit zu erhöhen. Ich trinke Kaffee, um meine Energie beim Sport zu steigern. Demnach ist Kaffee eine Lösung für ein Problem. Sei es Müdigkeit, Erschöpfung oder schlichte Langeweile.

Bekanntlich gibt es Menschen, die rein aus Genuss Kaffee trinken. Sonntags. Zu einem Stück Kuchen. Dabei kann der Konsum von Kaffee tatsächlich als eine freiwillige Handlung verstanden werden. Ein Werkzeug, um einen externen Zweck zu erfüllen. Eine Lösung für ein Problem. Dies gilt für jegliche psychoaktive Substanz. Sei es das Nikotin in den Zigaretten, welches Stress mindert. Oder Alkohol, welcher Spannungen abbaut.

Wenn wir süchtig sind, dann gelten diese (ohnehin etwas zweifelhaften) Vorstellungen unseres Handelns nicht. Der fast schon automatische Griff zum Kaffeebecher, Energydrink oder Zigarette ist die automatisierte Reaktion unseres Körpers, den Entzugserscheinungen zu entkommen. Das Koffein verändert die Chemie unseres Körpers. Der Griff zur morgendlichen Dosis Koffein ist keine rationale Entscheidung, sondern lediglich Instinkt.

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Abhängigkeiten verändern nicht nur unseren Körper. Sie verändern auch unser Selbst. Vor einer Sucht sind wir eine andere Person, mit einem anderen Körper. Das Koffein baut unseren Körper neu auf. Stück für Stück. Wie einst das Schiff des Theseus Stück für Stück neu aufgebaut wurde. Da stellt sich die Frage: Sind wir noch die gleiche Person, die wir vorher waren? Oder sind wir doch eine Schöpfung des Koffeins geworden? Wahrscheinlich letzteres. Unser Griff zur Kaffeetasse ist nicht mehr freiwillig und hat auch keine externe Funktion mehr. Der einzige Grund, weshalb wir zum Kaffee greifen, ist, den schmerzhaften Entzugsprozess, mit seinen Kopfschmerzen, Zitteranfällen und Schweißausbrüchen, in uns zu stoppen. Die Funktion des Bechers Kaffee ist, in unserem von Koffein geprägten Körper, den Schmerz des Koffeinentzugs zu verhindern.

Der Becher Kaffee ist eine Metapher. Eine Metapher für die vielen Bereiche unseres Lebens, über die uns von klein auf erzählt wird, dass sie eine externe Funktion haben. Wir bauen Häuser aus Beton und Stahl, weil Menschen in Höhlen es unbequem hatten. Wir bauen Autos, Schiffe und Flugzeuge, weil reisen mit der Kutsche anstrengend war. Wir entwickeln neue Medikamente, weil ein langes Leben erfüllender ist als ein kurzes.

Unsere Weltsicht entspricht einer Welt der Problemlöser. Alles ist diesem Paradigma unterworfen. Die Geschichte wird mit dieser Linse analysiert und interpretiert. Menschen haben getauscht. Das war aufwändig und kostenintensiv. Daraufhin entwickelten sie das Geld und die Transaktionskosten sanken. Problem – Innovation – Lösung. Durch das Verschwinden des Sonnenlichts konnten Menschen nur die Hälfte des Tages produktiven Tätigkeiten nachgehen. Daraufhin bändigten sie den Strom und konnten aktiv sein. Problem – Innovation – Lösung.

Wir werden ständig angeregt, uns schlechte Weltzustände vorzustellen, die dann plötzlich durch eine Innovation besser wurden.

An keinem anderen Ort ist die Kultur so stark auf Problemlösung ausgerichtet wie unter überaus eifrig gefeierten Entrepreneuren. Ein Blick auf die Homepage unserer ÖH-Studo App reicht, um diesen Punkt zu bestätigen. „Start-ups liefern innovative Lösungen für eine grüne Zukunft“. „MINT ist der Motor für die Fachkräfte von Morgen“. Und mein absoluter Favorit, „Unsere Mission. Unser Ziel ist es, Jugendliche durch Entrepreneurship Education zu Gestalter:innen der Zukunft zu machen. Es sind die schöpferischen Menschen – die Entrepreneur:innen – die Wirtschaft und Gesellschaft in Schwung halten.

Dieser Kultur zufolge haben Innovationen immer eine externe Funktion – sie sind immer inspiriert von einem Problem und haben das Ziel, die Welt zum Positiven zu verändern. Der Publizist Evgeny Morozov nennt diese Weltanschauung „Solutionismus“. Alles ist ein Problem, das es zu lösen gilt. Dabei wird die Welt Stück für Stück ein bisschen besser. Ähnlich einem Videospiel, in dem Rätsel und Missionen gelöst werden, um höhere Level zu erreichen.

Eine Prämisse entscheidet allerdings, ob die Weltsicht des Solutionismus – das Lösen von Problemen – sich positiv auf die Welt auswirkt. Es muss angenommen werden, dass der Maßstab, gegen den der Fortschritt und die Innovation gemessen wird, absolut und stabil ist.

In vielen Videospielen fängt man bei Level 0 an. Die Aufgaben sind relativ einfach und die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Spielfigur limitiert. In jedem neu erreichten Level erhält der Charakter mehr Leistungsfähigkeit, die wiederum gebraucht wird, um härtere Probleme zu ermöglichen.

Zentral für diese Spiellogik ist, dass in jedem neu erreichten Level kein Reset der Fähigkeiten stattfindet: Der Charakter in Level 3 nicht mit denselben Fähigkeiten von Level 0 gespielt werden muss.

Diese Videospiellogik wendet der Solutionismus an unsere Gesellschaft an. In Level 0 mussten Menschen rohes Fleisch essen und in Höhlen schlafen.

In Level 1 konnten sie sich verabreden und das Feuer hüten. In Level 10 waren sie nicht mehr auf wandernde Büffelherden angewiesen, sondern konnten sesshaft werden…

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Geschichte ist diesem Verständnis nach lediglich eine Anhäufung von Fähigkeiten und Wissen, die unsere Kapazitäten erweitern.

So wie wir glauben, dass der Kaffee uns äußerlich verändert, indem er uns leistungsfähiger macht, aber innerlich keine Auswirkung hat, so ist die tragende Prämisse des Solutionismus, dass der soziale und technische Fortschritt unsere Umstände und Möglichkeiten verändert, unser inneres Sein jedoch unangetastet lässt.

Die Ausweitung der Möglichkeiten und Fähigkeiten geht allerdings in unserer modernen kapitalistischen Gesellschaft mit einer Ausweitung der Bedürfnisse einher. Schon in der Schule wird uns beigebracht, dass das Leben eines Steinzeitmenschen hart war und von wenigen Dingen ausgeschmückt war. Erwachsene appellieren bei Debatten über Verzicht an diesen in der Kindheit erlernten Instinkt des kapitalistischen Bedürfnisbefriedigungszwangs und prophezeien den Rückschritt in die Steinzeit, wenn jegliche Drosselung des Schöpferwahns politisch und gesellschaftlich entschieden werden sollte.

Der Steinzeitmensch verspürte diese Einschränkungen jedoch nicht. Er hatte weniger, brauchte weniger und war in weniger Abhängigkeitsverhältnissen mit menschlich geschaffenen Dingen verstrickt. Der Steinzeitmensch konnte ohne Supermärkte leben und überleben. Eine Tatsache, die auch auf die meisten Menschen vor 100 Jahren noch zutraf. Zudem war dem Steinzeitmenschen völlig egal, was sein Nachfahre im 21. Jahrhundert von ihm und seiner „primitiven“ Lebensweise denken wird.

Nehmen wir an, ein Supermarkt wird in die Steinzeit gebeamt. Ötzi hätte plötzlich viel mehr Möglichkeiten. Er wäre plötzlich von Level 2 auf Level 100 katapultiert worden.

Dieser positive Effekt würde allerdings nur wenige Jahre oder Jahrzehnte halten. Langsam würde er im Hintergrund verschwinden, so wie der positive Effekt des Kaffees langsam in den Hintergrund verschwindet. Und so wie der Kaffee unseren Körper umbaut, sodass Koffein zu einer notwendigen Grundlage unseres Wohlbefindens wird, so wird der Supermarkt zu einer Notwendigkeit des Überlebens.

Der tägliche Kaffee gibt uns keine spürbare Energie mehr. Sein Fehlen ist jedoch spürbar. Schmerzhaft. Würden morgen alle Supermärkte verschwinden, wären wir Körper aus „Level 100“ in einer Welt aus „Level 50“. Supermärkte sind unser Level 0. Autos sind unser Level 0. Antibiotika sind unser Level 0.

Wie viel Zeit werden wir sparen können, wenn Nachrichten nicht mehr per Post geschickt werden müssen, sondern augenblicklich per Mail. Wie viel Ressourcen werden wir schonen, wenn wir digitale Patientenakten haben werden … Wurde uns vor wenigen Jahrzehnten versprochen. Versprechungen, die sich im Lauf der Zeit in Luft aufgelöst haben. Wir erleben Gesellschaften, die ein Level nach dem anderen erklommen haben mit dem Glauben, dass am Ende die völlige Freiheit auf sie warten würde. Frei von sinnfreien Verpflichtungen. Frei von unerfüllender Arbeit. Frei, selbst zu entscheiden.

In unserer Realität existieren Gesellschaften, in denen nur einige wenige privilegierte Menschen Freiheit genießen können, während die Mehrheit auf ihre Kosten kommt. Die übrigen Menschen müssen hart arbeiten, sind ständig gestresst und leiden unter finanziellen Ängsten, obwohl eigentlich genügend für alle vorhanden ist. Sie opfern ihre Zeit und Freiheit für einen Lebensunterhalt, der oft nicht ausreicht und in vielen Fällen sogar Leid verursacht.

Wie viel Zeit wird uns die „KI“ geben, um kreativen Tätigkeiten nachzugehen? Bevor sie ebenfalls in den Hintergrund absorbiert sein wird.

Die Vorstellung eines stabilen und absoluten Maßstabes, um Fortschritt zu messen, ist eine Illusion. Keine Utopie erwartet uns am Ende jeglichen Fortschritts. Es gibt kein Level 1. Nur Level 0.

 

 


Quellen (Bilder):
Gianluca Purzer

Gianluca Purzer

Kolumnist

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